Anna Margolina in Gespräch mit jazz-fun.de

Anna Margolina
Anna Margolina, Foto: Dovile Sermokas

Anna Margolina wurde in Minsk in eine Musiker- und Künstlerfamilie hineingeboren. Seit 1992 lebt sie in Berlin, wo sie auch ihr Ensemble gründete, mit dem sie heute in ganz Deutschland konzertiert. Im Juni 2023 erschien ihr Debütalbum “One Endless Night” auf dem Label XJAZZ!Music, das die Geschichte ihrer Auswanderung erzählt. Aus diesem Anlass haben wir sie zu einem kurzen Gespräch eingeladen.

jazz-fun.de:
Woher kam die Idee für ein solches Konzeptalbum?

Anna Margolina:
Eine Einwanderungsgeschichte ist spannend, weil die meisten von uns mit unterschiedlichen Kulturen und Mentalitäten in Berührung kommen. Ich habe diese Erfahrung ziemlich unvorbereitet als Kind gemacht und es hat mein ganzes Leben umgekrempelt. Ich wusste, dass ich das auf jeden Fall teilen muss.

jazz-fun.de:
Wie hast Du an dir gearbeitet, um deine eigene Identität zu formen?

Anna Margolina:
Ich habe das alles über die Sprache gemacht, viel gelesen: Russische Literatur, um zu verstehen, aus welcher Kultur ich gekommen bin - und Deutsche Literatur, um den Geist dieses Landes einzufangen. Im Alltag fiel mir das sehr schwer, ich musste mich oft hinterfragen, bis ich meine eigene Identität gefunden habe. Einen großen Halt habe ich in meiner Familie, vor allem meiner Mutter, die mich damals nach Berlin mitgenommen hat.

jazz-fun.de:
Welche Veränderungen fanden in Deinem Bewusstsein während Deiner Integration in die neue Welt statt? Gibt es Dinge, die Du vergessen wolltest?

Anna Margolina:
Ich musste mir ein komplett neues soziales Umfeld aufbauen, deshalb lernte ich wahnsinnig schnell Deutsch. Das ist mir gelungen, aber das richtige Ankommen hat bestimmt 15-20 Jahre gedauert. Ich glaube dennoch, dass es für alle Menschen wichtig ist, für eine gewisse Zeit ihre gewohnte Umgebung zu verlassen - wir entwickeln so mehr Verständnis für einander. Vergessen möchte ich nichts, im Gegenteil, der ganze Weg war wichtig.

jazz-fun.de:
Was ist die emotionale Wirkung Deiner Songs?

Anna Margolina:
Ich erhoffe mir, dass meine Art Musik zu interpretieren eine eigene Geschichte erzählt, die auch ohne Kontext wirkt. Es gibt viele melancholische Momente, die mit Humor aufgefangen werden. Wer möchte, kann meinen Programmen auf den Grund gehen und wird viele Themen finden, über die wir gemeinsam nachdenken können. Aber in erster Linie möchte ich ein Gefühl von Zuversicht und Hoffnung erzeugen, das mir selbst im Alltag oft verloren geht.

Anna Margolina
Anna Margolina, Foto: Dovile Sermokas

jazz-fun.de:
Wer hat die wunderbaren Kompositionen und Texte des Albums geschrieben? Wie groß ist der Stempel Deiner Schöpfung in diesen Kompositionen?

Anna Margolina:
Die Musik und Texte schrieb ein aus Irland stammender Komponist, den ich in Berlin bei einem meiner Projekte kennen lernte. Conor Cantrell weiß aus erster Hand, wie es ist, in einem neuen Land Fuß zu fassen. Für dieses Album las und hörte er von mir viele Geschichten, wir unterhielten uns auch über den Sound und die Dramaturgie, die die 8 Stücke haben sollten. Dann ließ ich los. Als er mir die Kompositionen vorspielte, war ich absolut baff davon, wie er die feinen Nuancen aufgenommen und in Songs verwandelt hat.

jazz-fun.de:
Viele Menschen hatten oder haben ähnliche Erfahrungen mit der Integration. Inwieweit können sie sich mit Deiner Sichtweise identifizieren?

Anna Margolina:
Einige werden sich sicher wieder erkennen - denn ich habe meine Geschichten genau aus diesem Grund abstrahiert. Ausgrenzung passiert leider aber auch ganz unabhängig davon, woher jemand kommt. Du kannst ein Fremder in deinem eigenen Land sein. Es hilft vielleicht zu wissen, dass wir damit nicht alleine sind.

jazz-fun.de:
Wie lange hast Du an diesem Album gearbeitet?

Anna Margolina:
Die Idee reifte einige Jahre, nachdem aber der Entschluss gefasst war, ins Studio zu gehen, ist es eine Frage von wenigen Monaten gewesen. Als ich die Musik in der Hand hatte, gingen wir in den Probenraum und standen kurze Zeit später in den Aufnahmekabinen. An der Produktion waren tolle Menschen beteiligt: das Jazzanova Recording Studio mit Marian Hafenstein am Mischpult, der das Album aufnahm, mixte, masterte und mit mir zusammen produzierte, das Editing machte Bob Spencer bei meinen Freunden The Famous Gold Watch Studio, es gibt tolle Live-Videos von Sebastian Merk, auch die physische CD, an der viele Kreative gearbeitet haben. Das Tempo legte die Förderzusage der Initiative Musik vor und mein Label XJAZZ!Music - ohne diese beiden Partner wäre das Album sicherlich nicht in der Kürze der Zeit, und auch nicht in dieser Qualität umsetzbar gewesen.

jazz-fun.de:
Welchen Einfluss hatten die beteiligten Musiker auf die Musik insgesamt?

Anna Margolina:
Die KollegInnen haben den Sound mit ihrer Art zu spielen natürlich geformt - ich bin damit wahnsinnig glücklich, denn bei neu komponierter Musik, die von mehreren Genres beeinflusst ist, gibt es ja keine so klare stilistische Vorlage. Da spielen Geschmack und Erfahrung eine große Rolle, auch wenn man meinen könnte, dass alles in den Noten steht. Kenneth Berkel am Piano, Hendrik Nehls am Bass, David Guy an den Drums und unser special guest Lisa Buchholz am Flügelhorn trafen die perfekte Symbiose von virtuos und gefühlvoll. Ich spiele mit allen schon länger zusammen, das hilft natürlich, einander zu verstehen.

jazz-fun.de:
XJAZZ!Music ist ein hoch angesehenes Label, herzlichen Glückwunsch! Wie bist Du dazu gekommen, Dein Debüt unter diesem Label zu veröffentlichen?

Anna Margolina:
Ich kenne das Label und das Festival schon lange, es war ehrlich gesagt meine absolute Nummer-1 Wahl - sie lassen den KünstlerInnen sehr viel Freiheit, was die Musik angeht, und stehen mit ihren Artists für den Jazz von morgen! Das Album soll auf jeden Fall auch viele junge Menschen erreichen, denn sie entscheiden ja darüber, was aus dieser Welt mal werden soll.

jazz-fun.de:
Dieses Album ist der erste Teil Deiner Geschichte. Hast du Pläne für die nächsten Alben?

Anna Margolina:
Erstmal gibts einen langen Marathon an Promo und Konzerten mit diesem Release, aber ich habe schon das nächste Thema im Hinterkopf. Mir gefällt es, konzeptionell zu denken und eine Geschichte dramaturgisch über mehrere Songs aufzubauen. Es wird bei der nächsten Platte vermutlich eher etwas verspieltes, mit ernsten Themen sind wir fürs erste ganz gut versorgt.

Text: jazz-fun.de
Foto: Dovile Sermokas

Aktuelles Album:
One Endless Night

Anna Margolina Internetseite:
https://www.margolinamusic.com/

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