Free - Die rhythmische Stille der Trommeln - ein Gespräch mit Joost Lijbaart

Joost Lijbaart - versierter international spielender Schlagzeuger aus den Niederlanden – ist u.a. seit 1996 mit dem Trio seines Landsmanns, dem Tenorsaxofonisten Yuri Honing, eng verbunden. Der Drummer Joost hat jüngst ein Solo-Album aufgenommen. Free steht stellvertretend dafür, wie der Pandemie durch kreative Kunst begegnet werden kann – durch die schöpferische Stille eines (jeden) Individuums.
Das sehr informative Gespräch mit Joost über die Entstehung seines Albums führten Martina Weinmar und Cosmo Scharmer für jazz-fun.de
Jazz-Fun.de
Eine Solo-CD ist immer gewagt. Bei einem Schlagzeuger ist es ein besonders mutiges Unterfangen. Die rhythmischen Teile der Musik stehen zwangsläufig im Mittelpunkt, ergänzende Komponenten wie Harmonie und Melodie können nur begrenzt eingesetzt werden. Können diese "Sachzwänge" ausgeglichen werden?
Joost Lijbaart:
Ja, ganz sicher. Ich habe einiges an "gestimmter Perkussion" benutzt: Glocken, Gongs und sogar melodische Perkussionsinstrumente wie Balafon (afrikanische Marimba), Glockenspiel und Vibraphon. Daneben erhält auch das indische Harmonium - um lange melodische Linien hinzuzufügen - eine große Rolle im Album.
Ich bin ohnehin ein sehr melodischer Schlagzeuger. Deshalb konnte ich während des Aufnahmeprozesses diese Melodielinien in meinem Kopf hören. Diese Melodien beeinflussten mein Schlagzeugspiel. Ich mag Musik mit viel Raum. Selbst wenn ich nur ein paar Becken anschlage, so höre ich dabei die Melodie. Wenn man Schlagzeug und Perkussion mehr dreidimensional betrachtet, kann die Wirkung der einer Musik-Band entsprechen. Ich habe auch nach ethnischen Instrumenten gesucht, nach Flöte, Schamanentrommel, Vogelpfeifen und Gongs.
jazz-fun.de:
Wie haben Sie konkret gearbeitet? Gab es zuerst die rhythmische Grundlage des Trommelns, über die Sie die anderen Instrumente wie das Harmonium spielten? Oder erfolgte das Trommeln auf dem harmonischen Hintergrund? Was war zuerst da?
Joost Lijbaart:
Das hängt vom Stück ab. Zum Beispiel: Free, Manhood und Corona Spiritual; ich hatte die Komposition fertig, also wusste ich, was ich im Studio machen musste. Ich spielte zuerst den Harmonium-Part und fügte später Schlagzeug und Perkussion hinzu. Aber bei Velocity und Interstellar begann ich zuerst mit den Trommeln. Dort ähnelt die melodische Idee eher einem indischen Raga. Deshalb arbeitete ich mit einer Skala und einem Dreher (Twist) als Ausreißer. Ich platzierte die melodische Linie hinter die Schlagzeugspur und führte nach und nach eine neue Note ein, so dass die ganze Melodielinie erst am Ende des Stückes zu hören ist.
jazz-fun.de:
Haben Sie sich stärker von komponierten Teilen leiten lassen oder sind Sie dem spontanen Impuls und damit der Magie der Improvisation gefolgt?
Joost Lijbaart:
Ich hatte sehr viele Ideen, was ich im Studio machen wollte, aber normalerweise folge ich bei der Arbeit im Studio einfach meiner Stimmung. Ich experimentiere auch viel. So arbeitete ich am ersten Tag an meinen "klaren" Ideen und Stücken wie Velocity, Dreamtime, Half Monn, Niage, Corona Spiritual und Free. An diesem Tag versuchte ich auch einige Klangimprovisationen im Studio. Das Stück Manhood komponierte ich später, als ich eine klarere Idee und einen Überblick über das Album hatte. Die Stücke Strangers from the Sky und Interstellar sind vollständig im Studio entstanden. Ich hatte einige Ideen und melodische Linien im Kopf, aber ich war auf der Suche nach der richtigen Instrumentierung, wie man sie spielt. Ich wollte, dass alle Stücke genug "Luft" zwischen den Noten haben. Deshalb suchte ich für diese Melodien die richtige Phrasierung und das korrekte Timing. Bei Strangers from the Sky brauchte ich einen ganzen Tag für die Aufnahme. Ich begann mit der Spur für das Schlagzeug, dann hörte ich, dass ich das Timing des Harmoniums hinsichtlich der Takte des Schlagzeugs freier gestalten musste.

jazz-fun.de:
Ein Titel trägt den programmatischen Namen "Corona Spiritual". Welche Rolle spielt die aktuelle Situation der Pandemie bei der Entstehung des Albums?
Joost Lijbaart:
Ohne die Pandemie wäre ich wahrscheinlich das ganze Jahr auf Tournee gewesen. Ich hätte nicht die Zeit und die innere Einkehr gehabt, das Album zu machen. Deshalb spielt "Corona" eine große Rolle in dem Album.
Dort haben die Reflexionen und die Stille den Blick nach innen ermöglicht. Das war für mich etwas Besonderes, denn in den letzten dreißig Jahren bin ich ständig aufgetreten, auf Tournee gewesen.
jazz-fun.de:
Ist das ein positiver Nebenaspekt der aktuellen Covid 19-Ereignisse?
Joost Lijbaart:
Ja, das ist es, ich habe tatsächlich entdeckt, dass ich immer noch jemand bin – für mich allein. Ich bin immer noch dieselbe Person, und ich habe sogar meine kompositorischen Fähigkeiten weiterentwickelt. Ich habe auch besser gelernt, die Melodieinstrumente zu spielen.
jazz-fun.de:
Die Titel strahlen eine große Stille aus und weisen in die Richtung einer Musik für die Mediation, zumindest für die Kontemplation, für das Innehalten, für das Zu-Sich-Selbst-Kommen. War das ein Ziel des CD-Projekts?
Joost Lijbaart:
Es geschah von selbst. Als der erste Lockdown in den Niederlanden begann, war ich in einer Art Schockzustand. Alle meine Konzerte und internationalen Tourneen verschwanden. Zuerst konnte ich es nicht glauben, dann fing ich an, viel in der Natur zu laufen, dann begann das Denken. Wer bin ich, wenn ich nicht spiele? Wer bin ich, wenn ich nicht auf Tournee gehe? Das war ein interessanter Prozess, denn ich verstand, dass ich immer noch dieselbe Person war, und ich fand sogar eine Art von Glück. Nach ein paar Wochen begann ich in meinem Studio zu üben, realisierte Ideen und spielte auf anderen Ebenen mit den Ideen. Zur gleichen Zeit ging ich eine Stunde pro Tag in der Natur spazieren, und ich entdeckte viele Dinge in mir selbst. Stille, aber auch Einflüsse von meinen Reisen, Gefühle über meinen Vater, der sehr jung starb, als ich 2 Jahre alt war. Der Entstehungsprozess des Albums war also eine "totale Reise ins Innere". Es gab so viel mehr, als ich erwartet hatte, auch Gefühle und Einflüsse von vor langer Zeit.

jazz-fun.de:
Ist diese Stille und das beabsichtigte Innehalten in der Musik erst im Laufe des Projekts entstanden?
Joost Lijbaart:
Ich mag Raum in der Musik. Stille ist auch ein Klang. Die Stille war die zweite Person während der Aufnahme. Ich habe der Stille zugehört, um zu entscheiden, was zu tun ist. So ist Stille immer ein Teil meines Spiels. Zum Beispiel habe ich während der Aufnahme des Eröffnungsstücks Strangers from the Sky das Harmonium zuerst im Puls der Trommeln getaktet, aber es klang besser, es freier zu takten, so dass mehr "Luft" in der Musik war.
jazz-fun.de:
Was ist für Sie besonders wichtig? Was könnten die Leute beim Hören dieser Musik erkennen?
Joost Lijbaart:
In mir selbst und in der Musik hoffe ich, eine Art unendliches Gefühl zu finden. In einer Art und Weise im Augenblick zu sein, in der es weder Vergangenheit noch Zukunft gibt. Es geht um das Leben. Beim Leben geht es um das Jetzt. Es geht um Teilen und Geben. Je älter ich werde, desto mehr begreife ich, dass das wichtig ist.
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