JazzBaltica 2019

JazzBaltica 2019 - Nicole Johänntgen´Reise zu inneren & äußeren Welten – Solo Altsaxofon - 22.06.2019

Nicole Johänntgen
Nicole Johänntgen, Foto: Jacek Brun

Nicole Johänntgen - solo

Das Ambiente von JazzBaltica am Abend des 22. Juni 2019:
JazzCafé, späte Stunde, sanftes Mittsommerlicht, der Raum proppenvoll, der Hall nur gering, die Luft leicht verbraucht, eine Frischluftzuvor so schnell nicht zu machen. Die Musikerin wird dem trotzen. Das Solo wird unverstärkt (unplugged) gespielt werden, nur die Ansage verlangt nach dem Mikro. Kurze Ansage von Nils, der zwar alle Konzerte als was ganz Besonderes ankündigt, oft auch Recht hat, aber - so wird sich zeigen – in diesem Fall ist es wirklich was ganz Besonderes.

Nicole Johänntgen: Es soll eine Reise werden, eine „Reise zu den Sternen“, so man/frau will. Die Augen schließen, wegdriften, sich auf die Musik einlassen. Diese Gebrauchsanweisung zum Hören ihres Solos gibt die Jazz-Musikerin dem Publikum mit auf den Weg. Dann wird sie bis zum Ende ihres Konzertes nichts mehr sagen, sondern „nur“ noch spielen.

Nicole Johänntgen
Nicole Johänntgen, Foto: Jacek Brun

Es ist schon sehr mutig, allein ein Solo auf einem Saxofon von einer halben Stunde zu wagen. Der Autor hat versucht, den Tönen, den Tonfolgen, den Melodien, den Harmonien, den rhythmischen Nuancen zu folgen. Dies ist weniger mutig als das Solo von Nicole Johänntgen, aber es ist schwierig, ein Solo von einer ewig langen halben Stunde zu verfolgen und die Musik auch nur grob annähernd in Worte zu fassen. Die Besucher des Konzertes, könnten das beurteilen. Rückkopplung wäre wunderbar!

Das Abenteuer der musikalischen Reise beginnt. Schon verlassen die ersten Klänge das Horn. Die Einstimmung erfolgt mit vorsichtigen Tönen: nur angehaucht, angeblasen, angestoßen, angetippt. Dabei bleibt die Altistin nicht still auf der Bühne stehen, sondern sie beginnt, im Raum umher zu wandern.

Kurz innehalten, Atem holen, erneut Töne dem Instrument entlocken. Weiter spielen, dabei im Raum herumlaufen. Erste Schleifen entströmen dem Alt, dann vorsichtige Melodietupfer, nur angedeutet, angerissen. Es wird fahriger, ein leises Aufschreien entspringt dem Sax, dann wieder zurück zu ruhigen Sequenzen. Neue Farben erfüllen die Klänge, aus denen einzelne Laute wie Töne tropfen. Es sind sehr persönliche Stimmungen, Gefühle, Eindrücke und Erlebnisse, die in dieser Musik enthalten sind. Die Stimmungen können durch die Anwesenden individuell gefüllt werden. Wer will, der reist mit den Klängen zu den Sternen oder zu anderen realen oder fiktiven (Erlebnis-)Welten. „Traut Euch“ ruft das Sax den Anwesenden zu.

Nicole Johänntgen
Nicole Johänntgen, Foto: Jacek Brun

Kein Ton ist zu laut, keiner zu leise. Singende Laute sind zu hören, die Geschichten andeuten. Und die kommen. Detailliert vom Alt erzählt, ändert sich der Rhythmus. Es wird markanter, akzentuierter, auch schneller. Der nächste Wechsel erfolgt sogleich. Lang ausgehaltene Töne wetteifern miteinander. Melodische Linien kämpfen mit energetischen Feldern um die Sinngebung der musikalischen Landschaften von Nicole Johänntgen.

Die Töne sind nicht festzuhalten, kaum sind sie im Ohr, so verflüchtigen sie sich, fliehen zum nächsten Klang, wo sie nicht lange bleiben. Die Töne sind einfach nicht festzuhalten. Sie springen die Tonleiter rauf und runter, gleiten harmonischen Gerüsten entlang, fallen mal atonal herunter, lösen sich dann wohlgefällig auf oder verblasen in schrägen Dissonanzen, trumpfen letztlich noch mal dick auf und sind dann weg. „When you hear music, after it’s over, it’s gone in the air. You can never capture it again“ stellte einst der legendäre Altsaxofonist Eric Dolphy fest. Dem ist so, auch Nicole Johänntgen mit ihrer gebannten Hörerschar kann sich dem nicht entziehen. Und so haucht und bläst sie immerfort neue Töne, neue Schleifen, neue Improvisationen auf ihrem Altsaxofon.

Da erschallt ein jazziger Marsch mit Bezug zur Tradition. Nur kurz. Dann tönen wieder die endlosen Weiten des Universums aus dem erdigen Holzblasinstrument. Hymne an die Sterne, Hommage an die Zauberkraft der Musik. Der Grundton bleibt noch eine ganze Weile meditativ, um dann von einer perkussiven Spielweise abgelöst zu werden. Dieses „perkussive“ Blasen kommt als „Plop Plop“ aus dem Alt. Es wird sich dann einschalten, wenn die Themen in zu harmonische Melodiefetzen abzugleiten drohen oder wenn Verbindungen zu anderen Themen zu überbrücken sind…Plop Plop… Plop Plop.

Julia Hülsmann, Nicole Johänntgen
Julia Hülsmann, Nicole Johänntgen, Foto: Jacek Brun

Das Ende des Solo-Konzertes ist so ungewöhnlich wie das Gesamte. Mittlerweile am Ausgang spielend angekommen, verlässt Nicole Johänntgen fast unsicht- und unhörbar den Raum. Leise verblassen die letzten Töne, entfliehen ins Baltische Meer. Ein ratloses Publikum bleibt zurück. Allein, ohne Musik. Es dauert eine ganze Weile bis die Anwesenden realisiert haben, dass die Reise, die Verzauberung endgültig vorbei ist. „When you hear music, after it’s over, it’s gone in the air. You can never capture it again“. Als sich diese Erkenntnis durchsetzt, bricht ein Sturm der Entrüstung ob der verlorengegangenen Welt aus, der dann zu einem Orkan der Begeisterung mit der Stärke 12 aufbraust.

Nicole Johänntgen Altsaxofon-Solo, JazzBaltica 2019,Timmendorfer Strand, Ostholstein am Mare Balticum im Herzen Europas, 22.Juni 2019, 23:00 Uhr, JazzCafé. Das notiert der Autor, der mehr als hoch erfreut ist, hier und jetzt der Chronist gewesen zu sein.

P.S. Als Zugabe gibt es – zusammen mit Julia Hülsmann am Piano – einen eher freien, aber noch erkennbaren, erdigen Blues in F-Dur. Der ist auch notwendig, um das Publikum wieder auf den Boden der realen Konzertwelt zu stellen, es wieder tauglich für die folgenden Konzerte zu machen.

Nicole Johänntgen
Nicole Johänntgen, Foto: Jacek Brun

Text: Cosmo Scharmer
Foto: Jacek Brun

Mehr über Nicole Johänntgen

Nicole Johänntgen - Solo

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Nicole Johänntgen - Solo

JazzBaltica 2019 - Fotoreportage

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JazzBaltica 2019

19.000 Besucher feierten vom 20. bis zum 23. Juni die 29. Ausgabe von JazzBaltica in Timmendorfer Strand. Sämtliche Konzerte auf der MainStage im Festsaal des Maritim  Seehotel Timmendorfer Strand waren ausverkauft. Hier waren unter anderem Mathias Eick, Nils Wülker, Jakob Bro und Palle Mikkelborg, Katja Riemann, Marilyn Mazur, Bugge Wesseltoft, Dan Berglund und Magnus Öström sowie das senegalesische Orchestra Baobab zu erleben.
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