Olga Reznichenko Trio - Somnambule

Olga Reznichenko Trio
Somnambule
Erscheinungstermin: 20.05.2022
Label: Traumton, 2020
Olga Reznichenko - piano, compositions
Lorenz Heigenhuber - doublebass
Maximilian Stadtfeld - drums
Wer vom Albumtitel Somnambule auf eine durchweg ruhige, traumverlorene Musik schließt, wird hier öfter mal überrascht. Den Namen des Albums meint Olga Reznichenko nämlich nicht wörtlich, sondern assoziativ. „Es geht nicht direkt ums Schlafwandeln, sondern um unterschiedliche Nacht-Zustände. Dazu gehörten auch halb-bewusste Phasen, in denen meine Gedanken nicht zur Ruhe kommen oder Melodien nachklingen, die ich vorher gespielt habe.“
Der Aufmacher Liquid Salt Sleeps Lost erscheint mit seinen harmonischen Momenten tatsächlich recht lyrisch, doch blitzt zwischen der Nuanciertheit bereits das Energiepotential des Trios auf. Das folgende Restless Stone Stops Motion beginnt ebenfalls poetisch, aber schon im melodischen Hauptmotiv fließen Olga Reznichenkos Klaviertöne etwas schneller, verwirbelt Maximilian Stadtfeld die Takte um einiges dynamischer. Seine individuellen Akzente beflügeln die Improvisationen der Pianistin. Während sie mit einer bemerkenswerten Balance aus Eleganz und Entschlossenheit immer weiter ausgreift, schwingt sich auch Bassist Lorenz Heigenhuber zu einfallsreichen, anspornenden Linien auf. Nach gut vier Minuten und einer kurzen Phase der Kontemplation nimmt das Geschehen eine unvorhersehbare Wendung. Plötzlich dominieren repetitive Figuren, die Reznichenko immer kraftvoller kreiseln und tänzeln lässt und dabei einen eigenen Ausdruck zwischen klassischem Minimalismus und Nik Bärtschs Zen-Grooves findet.
Es kommt nicht so häufig vor, dass ein Debütalbum nach den ersten beiden Tracks und rund 16 Minuten Laufzeit dermaßen beeindruckt. Die Tiefe in Reznichenkos Spiel, das Oszillieren von Klangfarben und stilistischen Einflüssen, der zuweilen singende Ton und die rhythmische Detailschärfe von Bassist Heigenhuber sowie Stadtfelds souveräner, mal klangvoller, mal eruptiver Umgang mit dem Schlagzeug kreieren einen besonderen Sound und verleihen Somnambule seine spezielle Aura. Während Still, From Below Found wieder etwas ruhiger bleibt und dabei subtile Suggestionskraft entwickelt, beeindruckt One Hit Backlash durch beherzte, fast schon nervöse und auch ziemlich freie Expressivität, ohne dass die Band die Form komplett auflöst. In der Einleitung von Ground Most Must Take streicht Heigenhuber leicht quietschende Töne, später steigert die Band ein weiteres Mal die Intensität durch gezielte Verdichtung. Final Mirrors Facing Flames verblüfft mit rhythmischer Finesse sowie perlenden Klavierkaskaden, die auf Reznichenkos Faible für russische (Spät-)Romantik à la Prokofjew, Mussorgsky, Skrjabin verweisen. Schließlich klingt All, After Nothing Left mit mysteriösen Harmonien und Schwelldynamik wie neue Musik zu einem alten Film von Roman Polanski.
Beim Komponieren verfolgt Olga Reznichenko einen eher intuitiven als konzeptionellen Ansatz. Ihre Stücke basieren auf Improvisationen, die sie für sich alleine spielt und aufnimmt. In der Folge destilliert sie nach und nach die Essenz ihrer Einfälle heraus. Erst dann bekommen ihre Begleiter die Noten zu sehen: „Ich bringe zu unseren Proben etwas mit, das mir 100% Spaß macht und das schon recht präzise ausgearbeitet ist.“ Trotzdem sei sie offen für Ideen, die Stadtfeld und Heigenhuber einbringen. Die Ursprünge der Stücke von Somnambule reichen zurück bis 2018. „Damals hatte ich die Idee, Musik und gelesene Erzählungen zu verbinden und dafür einen Freund gefragt, ob er etwas schreiben könnte“, sagt Olga Reznichenko. „Daraufhin hat er einen Traum in acht Episoden unterteilt und mir den Inhalt dieser Episoden erzählt, dazu habe ich acht Kompositionen geschrieben. Die von ihm erdachten Überschriften für die acht Kapitel wurden die Titel der Stücke und die Musik ist die Erzählung.“
Seitdem hat sie immer wieder an Details gefeilt, oft auch nach Konzerten. Vor dem Aufnahmetermin am 7. Dezember 2020 lagen einige Auftritte, entsprechend hellwach war die Band im Kölner Loft-Studio, was sich nun als intuitives Einverständnis in wendigen Interaktionen zeigt. Den konzentrierten Aufnahmen tagsüber folgte am Abend ein Streaming-Konzert am gleichen Ort. „Ich fühlte mich zwar nicht mehr ganz so frisch, trotzdem konnten wir beim Gig eine so starke gemeinsame Energie entwickeln, dass vieles davon tatsächlich auf die Platte gekommen ist“, freut sich Reznichenko über die Magie des Moments.
In der Hafenstadt Taganrog an der Mündung des Don ins Asowsche Meer wurde Olga Reznichenko 1989 geboren. Angespornt von ihrer musikalische Mutter und Großmutter erhielt sie ab acht Jahren Klavierunterricht. Jazzkonzerte in der Schule lösten bei Reznichenko eine Leidenschaft für Jazz aus und sie begann heimlich, gegen den Willen der Eltern, mit Musikern aus diesem Genre zu spielen. Zunächst studierte sie an der Hochschule in Rostow am Don, 2012 zog Reznichenko nach Leipzig, wo sie zwei Jahre bei Richie Beirach, dann bei dessen Nachfolger Michael Wollny studierte. Besonders Letzterer hat ihr Spiel erkennbar inspiriert. 2018 absolvierte sie ihren Bachelor, im Sommer 2022 wird sie ihren Jazzpiano-Master abschließen.
Mit ihrer Band Ylativ Algo gewann Olga Reznichenko beim 40. Getxo International Jazz Festival 2014 den 1. Preis, 2017 erreichte sie im Duo Sofia & Olga bei den Sparda-Jazz-Awards im Rahmen der Jazz-Rally Düsseldorf Platz 2. Im gleichen Jahr veröffentlichten die beiden Musikerinnen ihr Debütalbum Shells in Motion. 2018 spielte Reznichenko bei den Leipziger Jazztagen in der Matthew Herbert Brexit Big Band. Ferner ist sie Mitglied bei BREU mit Maximilian Breu, Andreas Dombert und Andreas Lang sowie bei A Word Is A Swallow mit Theresia Philipp, Robert Lucaciu, Philipp Scholz. 2021 wurde Reznichenko Mitglied des Ensembles Spielvereinigung Süd. Seit 2021 gehört sie zum Programmkuratorium der Leipziger Jazztage und zum Organisationsteam des Mjuzik Festivals in Leipzig.
Ihr aktuelles Trio gründete Olga Reznichenko für ihr Bachelor-Abschlusskonzert an der Leipziger Hochschule. Das in der Folge entstandene Repertoire feierte im Rahmen eines Drei-Abende- Engagements im Hot Club in Lissabon öffentliche Premiere. Parallel dazu wurden Max Stadtfeld und Lorenz Heigenhuber im Trio mit dem Vibraphonisten Volker Heugen mit dem Nachwuchspreis der Stadt Leipzig 2019 ausgezeichnet. Anfang desselben Jahres erhielt Stadtfeld seinen internationalen „Ritterschlag“ als Drummer des Live-Projekts Bau.Haus.Klang von Michael Wollny (mit Émile Parisien u.a.), das bei der Eröffnung des Bauhaus-Festivals in der Berliner Akademie der Künste (mit Übertragung auf Arte-Live), beim London Jazz Fest und den Leipziger Jazztagen brillierte. Heigenhuber wiederum arbeitete mit u.a. Louis Sclavis, Enders Room und wurde für verschiedene Theaterproduktionen, darunter „Die Räuber“ (Theatertreffen Berlin 2017) engagiert.
„Ich bin nicht so ein analytischer Typ“, erklärt Olga Reznichenko vergnügt, „mir gefällt es, beim Spielen das Denken einfach loszulassen.“ Es ist die Mischung aus profunden Kenntnissen und klaren Vorstellungen, etwa zu Stimmungen und Klangfarben, die Reznichenkos Gestaltungswillen speist. Mit ihrer Band verbindet sie komplexe harmonische und rhythmische Strukturen, subtile und kraftvolle Momente sowie melodische Anknüpfungspunkte zu einer persönlichen Ästhetik, die Somnambule zu einem herausragenden Debütalbum macht.
jazz-fun.de meint:
Olga Reznichenko bietet sowohl ein weiträumiges, impressionistisches, sensibles Spiel als auch halsbrecherische Galoppaden und demonstriert damit ihre erstaunlichen technischen Fähigkeiten. Sowohl in den gemeinsam gespielten Themen als auch in den Soloparts klingt das gesamte Trio sehr interessant. Es handelt sich um ein Debüt mit einer sehr ästhetischen und künstlerischen Botschaft. Dieses Album muss man gehört haben!
- Liquid Salt Sleeps Lost
- Restless Stone Stops Motion
- Still Found From Below
- One Hit Backlash
- Ground Most Must Take
- Slipping Pace Returning Time
- Final Mirrors Facing Flame
- All After Nothing Left
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