Maarja Nuut - Une Meeles

Maarja Nuut
Une Meeles
Erscheinungstermin: 24.06.2016
Label: Maarja Nuut/Indigo, 2016
Man könnte regelrecht böse sein auf Modest Petrowitsch Mussorgski. Wäre doch bloß der Titel „Bilder einer Ausstellung“ nicht schon an sein zweifellos wunderbares Epos dieses Namens vergeben gewesen! Jetzt nämlich würde er für das Album einer jungen Estin noch ein wenig besser passen. Während Mussorgski die Musik zu einer real denkbaren Ausstellung schrieb, hat Maarja Nuut mit „Une Meeles“ („In the Hold of a Dream“) die Musik für eine Exposition erschaffen, die sich erst beim Hören in der Fantasie ihrer Zuhörer entwickelt. Das hört sich viel theoretischer an, als es im Grunde ist. Es geht vielmehr zurück in jene Zeiten, als Musik nicht mit einem Riesenrucksack von Klischees und Erklärungen ihrer selbst von Marketingstrategen ins Rennen geschickt wurde, sondern nur dann Beachtung fand, wenn sie wie von selbst Geschichten in den Köpfen ihrer Zuhörer weckte, ob das nun Märchen oder Mythen oder Alltags-Lethargien waren.
Maarja Nuut hat ein paar Jahre gebraucht, um zum Format ihrer höchst ungewöhnlichen Musik zu finden. Mit 15 begann sie das Musizieren, „dann kamen vier Jahre in einem achtköpfigen World Music Projekt namens ’Ethno In Transit’.“ Eine tolle Erfahrung sei das gewesen, „aber irgendwann hatte ich das Gefühl, für so viele Stile zu viele Kompromisse machen zu müssen. Ich wusste gar nicht mehr, aus welchen Zutaten das Gebräu eigentlich bestand.“ Als sie sich habe fragen müssen, ob sie denn überhaupt über eine eigenständige Stimme verfüge und wie die denn wohl klinge, „da wählte ich den Weg ins andere Extrem: Ich und meine Violine. Und nach einem langen Prozess kamen dann noch ein paar Loops dazu, bei denen aber Vorsicht geboten ist. Die machen nämlich nur Sinn, wenn sie nicht bloß mir, sondern auch dem Zuhörer neue Perspektiven eröffnen.“
Das ist jetzt ganz klar der Fall. Nuut hat hierfür einige traditionelle Erzählungen ihrer Heimat Estland mit ganz persönlichen Geschichten vermischt und das Ergebnis höchst ungewöhnlich, sehr intim und beinahe spartanisch instrumentiert. Ihr Gesang erinnert ein bisschen an die Schamanengesänge der Samen Nordfinnlands und -norwegens, wie sie eine Mari Boine zu internationalen Renomée verholfen hat. Es sei vielleicht ein bisschen schade, sagt Maarja Nuut, dass „Une Meeles“ zwar Übersetzungen im Booklet habe, „aber die Erklärungen, die ich auf der Bühne zwischen den Song gebe, hier fehlen.“ Andererseits sei es ihr auch recht, „ein paar Geheimnisse zu bewahren. So gebe ich den Zuhörern Raum für eigene Gedanken und Fantasien. Mir gefällt es sehr, dass manche Besucher meiner Konzerte sagten, die Lieder hörten sich an wie Soundtracks mysteriöser Märchen. Sie hatten ja Recht, obwohl sie kein Wort meiner Texte verstanden.“
Weil auch in der Musikwelt stets nach vermittelbaren Kategorien gesucht wird, habe es, sagt Nuut, „schon seltsam wilde Vergleiche gegeben.“ Da sei von Indie und Jazz oder gar von ’Post Classical’ die Rede gewesen, „für mich aber sind jene Situationen am spannendsten, wenn Hörer sich mit keinem Vergleich wohl fühlen und in meinen Konzerten fast ein bisschen verloren gehen. Um nachher voller Enthusiasmus auf mich zuzugehen und zu fragen, ’ich habe so etwas noch nie gehört, was war das bloß?’“ Die Antwort könnte natürlich auch in Maarja Nuuts Herkunft liegen – wer kennt schon in Deutschland, England, Frankreich die Musik Estlands? Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs, sagt die Künstlerin, sei vieles in ihrem Land einfacher geworden, „im Grunde müsste ich sagen: ist Vieles überhaupt erst möglich geworden. Deshalb machen wir aber heute keine bessere Musik. Es ist nämlich auf der anderen Seite viel schwieriger geworden, gegen die auf einmal so vielen Einflüsse von außen überhaupt noch einen eigenen Weg zu behaupten.“
Dem wäre durchaus zu widersprechen, und zwar mit einem starken Argument im Rücken: Maarja Nuuts eigenem Album. Dessen Sounds reichen von verschroben über geheimnisvoll bis zu niedlich, mal wird die Geige repetitiv gestrichen, mal dabei von fein geklöppelten Rhythmen, deren Herkunft mysteriös bleibt, begleitet. Und die herbstluftklare Stimme der jungen Estin klingt mal zärtlich und im nächsten Moment fast ein wenig metallisch. Musik, zu der man sich Filme oder Bilder, immer wieder neue Bilder ausdenken möchte. Und als wäre das allein noch nicht genug, formuliert die Künstlerin zum eigenen Tun sogar eine ebensolche Philosophie. „Geschichten von einer leicht verschobenen Realität“, sagt Maarja Nuut, „kreieren eine herrliche Spannung und befeuern die Vorstellungswelten der Menschen.“ Und in einer Welt mit viel zuviel Informationen müsse man nach eigenen Wegen suchen, um die Orientierung nicht zu verlieren. „Wenn ich Musik mache“, so Nuut, „stelle ich mir immer ein großes, fremdes Haus vor, durch das ich gehe. Hier ein Raum voller Nippes, dort eine Halle mit hoher Decke. Ich urteile nicht, ich beobachte nur. Und wenn ich das Haus verlasse, halte ich eine neue Geschichte in Händen.“ Das mag ja Manchem unheimlich sein. Wer aber jetzt nicht schwer gespannt ist auf die Musik von Maarja Nuur, hat sich wohl längst mit der Fahrstuhlmusik des 21. Jahrhunderts arrangiert.
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