Barbara Lahr - Kintsugi

Barbara Lahr
Kintsugi
Erscheinungstermin: 30.07.2021
Label: Phazz-A-Delic, 2021
Es gibt einen Ort im Inneren, einen Ruhepol tief in uns selbst, an dem wir nicht eingesperrt sind oder beengt, nicht rat- oder kraftlos, sondern ruhig, sicher und frei im Denken. Wir alle wissen um diesen Ort, und doch suchen wir ihn oftmals vergeblich. Dabei gibt es Wegweiser dorthin.
Barbara Lahr kennt viele von ihnen: Worte und Weisheiten vergangener Tage. Muße und Meditation. Und natürlich die Musik. Vor allem: Singen! Barbara Lahr hat das praktisch schon immer getan, und sie tut es jetzt wieder, auf „Kintsugi“, ihrer ersten SoloVeröffentlichung seit fast zehn Jahren. Sechs Song sind es geworden, die man beim ersten Hören wegen ihrer Leichtigkeit fast für Miniaturen halten könnte - dabei sind die monumental.
Die Sängerin, Gitarristin, Komponistin und Produzentin Barbara Lahr ist seit vielen Jahren eine der tragenden stimmlichen Säulen des Heidelberger Elektrojazz-Projekts De-Phazz, dem weltweit genossenen Exportschlager für gut gereiften Lounge-Sound im Hier und Jetzt. Die Songs von Barbara Lahrs EP atmen die gleiche Luft, schweben in derselben Stratosphäre wie das Mutterschiff De-Phazz, auch wenn sie nicht im großen Kollektiv entstanden sind: Das Layout aller Titel programmierte Lahr zurückgezogen in einer Art Bedroom-Production, allein unter Verwendung des grauen Kult-Samplers aus dem Hause Akai auf ihrem Tisch. Nur der versatile Jazzgitarrist und langjährige musikalische Weggefährte Bernhard Sperrfechter, mit den Lahr bereits auf dem letzten Album „Undo Undo“ zusammengearbeitet hatte, durfte seine Ideen, seinen Einfluss einbringen. Die feinperligen Arpeggios und Riffs seiner cleanen E-Gitarre sind es, die den Gesamtklang von „Kintsugi“ prägen und den Boden für Lahrs Vokal-Arrangements bereiten.
Im Gegensatz zu De-Phazz setzt „Kintsugi“ nicht primär unsere Nervenbahnen und Beine in Bewegung, sondern unseren Geist und unsere Gedanken: Nicht die Lounge, nicht der Club ist der Ort, an den uns diese Stücke transportieren; vielmehr geleiten sie uns auf einer Reise zu uns selbst, zu unserem eigenen Ruhepol - wie ein langer tiefer Atemzug, wie eine innere Einkehr. „Kintsugi“ weist über die Gegenwart hinaus, ist quasi von Ort und Zeit entrückt, reflektiert das Eigentliche und das Unendliche.
Das liegt zu einem daran, wie Barbara Lahr singt: Ihre Stimme besticht mit unverhohlener Liebe zum Jazz und einem zarten Schmelz speziell in den tiefen und höchsten Registern - besonders effektvoll dann, wenn sie im Duett mit sich selbst erklingt! Und doch ist da eine Zurückhaltung, eine Zurückgenommenheit in ihrem Vortrag, die an ein sanftes Bedauern gemahnt, an tief empfundenes Mitleid, vielleicht auch an das Lebewohl an einen lieben Menschen. Ein stetes Zittern im Timbre, das geradezu zerbrechlich wirkt und sich seiner Selbst zutiefst bewusst ist.
Zum anderen liegt es daran, was Barbara Lahr singt: Für ihre Stimme hat sie keine eigenen Texte gesucht, sie lässt andere sprechen. Gedanken, aufgeschrieben in längst vergangenen Tagen, wortschöne Wahr- und Weisheiten wie diese:
„Behind Me - dips Eternity - Before Me - Immortality - Myself - the Term between - Death but the Drift of Eastern Gray, Dissolving into Dawn away, Before the West begin -“. Die Werke von Emily Dickinson wurden erst nach ihrem Tod, zum Ende des 19. Jahrhunderts veröffentlicht; Barbara Lahr bedient sich auf „Kintsugi“ gleich dreimal bei der großen amerikanischen Dichterin. Weitere Texte findet sie beim englischen Mystiker William Blake, bei Dickinson Lands- und Zeitgenossen Henry Wadsworth Longfellow sowie dem deutlich jüngeren Lyriker und Arzt William Carlos Williams.
Eben das auf Dickinson beruhende „Behind Me“ eröffnet die EP mit einem feinen Fluss ständig wechselnder Dur- und Mollharmonien, und wie ein steter, nie versiegender Strom umfließt uns das Bild von Dickinson als das unseres Lebens: „Hinter mir - sinkt die Ewigkeit - Vor mir - die Unsterblichkeit - Ich selbst - der Begriff dazwischen - Tod bloß die graue Drift aus Ost, Löst sich fort im Morgenrot, Noch ehe der Westen antritt.“ In dem kurzen Raum zwischen der Ewigkeit, die uns vorausgeht, und der Unsterblichkeit, die folgen wird, ist das Leben ein kurzes Zwischenspiel. Wenn man die Welt derart sieht, wird der Tod - anstelle eines bedrohlichen Endes - zu einer ruhigen Drift, die sich in der Morgenröte auflöst, mit dem Aufgehen der Sonne im Westen.
Im darauffolgenden Titel „Joy“ darf Emily Dickinson noch deutlicher sprechen: „Life is but life, and death but death! Bliss is but bliss, and breath but breath! And if, indeed, I fail, At least to know the worst is sweet. Defeat means nothing but defeat.“ Auch eine Niederlage ist nichts weiter als eine Niederlage, und wenn wir versagen, schmeckt es doch süß, um das Schlimmste zu wissen - eine Süße, die sich aus Barbara Lahrs Stimme großflächig über einen verlangsamten Dub-Rhythmus ergießt.
„Afternoon in February“ flackert leise wie ein amerikanischer Folksong über der vereisten Winterlandschaft; „Hope“ fliegt federleicht mit Soul- und Blues-Anklängen davon, denn „Hoffnung ist ein Ding mit Federn“. „Tyger“, nach Blakes vielleicht meistgedrucktem Gedicht, stromert durch einen halbdunklen Dschungel aus Mambo und Calypso und sucht die Antwort auf eine alte Frage: Ist der gefährliche Tiger von demselben Gott geformt, der die Welt so wunderbar und schön erschaffen hat? „Peace On Earth“ schließlich ist ein Schlaflied, und man muss das Gedicht von William Carlos Williams schon mehrmals lesen (oder von Barbara Lahr gesungen hören), um zu verstehen, dass der Schütze und sein Pfeil, der Bär, der Schwan und der Adler keine Jagdszene darstellen, wie es die Musik zunächst nahelegt - ein prozessoraler, düsterer Marsch. Nein, es sind die Sternbilder über den Schlafenden, die sich golden gegen das Blau abheben, „Gold against Blue“, und auch die Musik löst den Irrtum auf: über weichen Celloklängen säuselt Barbara Lahr ein mehrstimmiges „Sleep Safe, till tomorrow“.
„Kintsugi“ hat Barbara Lahr ihre EP genannt, nach der Bezeichnung für eine alte japanische Reparaturtechnik: Zerbrochene Keramik wird mit einer Masse gekittet, in die man feinstes Pulvergold einstreut. Die Splitter und Scherben, die Risse sind nach der Reparatur also nicht kaschiert, sondern sichtbar hervorgehoben - der alte Makel wird zum neuen Wert.
Die Wertschätzung von eigenen Fehlern und das Annehmen der eigenen Schwächen, die Erkenntnis und Akzeptanz der eigenen Vergänglichkeit und die dabei gewonnene Freude am Leben, diese Themen sprechen und erklingen aus Barbara Lahrs „Kintsugi“. Ein Album zur inneren Einkehr und Meditation, zur Rekonvaleszenz von Ängsten, die uns beengen und von Krankheiten, die uns bezwingen wollen. Und denen wir uns stellen können, so wie Barbara Lahr mit ihrer Stimme. Wenn wir zu uns selbst finden, zu unserem Ruhepol, zu einem befreiten Geist. „Kintsugi“ ist ein Wegweiser dorthin.
jazz-fun.de meint:
Es ist zweifellos eine schöne Musik, die stark vom Jazz inspiriert ist und viel davon enthält. Je länger man sich dieses Album anhört, desto deutlicher wird die Schönheit der Musik, in der verschiedene Stile nicht einfach aufeinandertreffen, sondern sich vermischen.
- Behind Me (Emily Dickinson)
- Joy (Emily Dickinson)
- Afternoon in February (Henry Wadsworth Longfellow)
- Hope (Emily Dickinson)
- Thy Tyger (William Blake)
- Peace on Earth (William Carlos Williams)
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