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Eva Klesse - Flusspferde bürsten - High Society 2022!

Artist: Eva Klesse (dr/comp)
https://evaklesse.de/
Magazine: JAZZTHETIK (D)
Text: Hans-Jürgen Linke
Photos: Sally Lazic, Gerhard Richter, Jan-Gerrit Schäfer
https://jazzthetik.de/
Das verflixte siebte Jahr ist längst überstanden, Eva Klesses Quartett kann im Januar 2021 den achten Band-Geburtstag feiern. Kennengelernt haben sie sich in Leipzig schon während des Studiums, und als es dann ernst wurde mit dem Beruf, war eigentlich allen klar, dass es diese vier sein mussten. Seither sind sie um gemeinsame Arbeits- und Spiel-Erfahrungen, zahllose zusammen zurückgelegte Kilometer und viele Quartett-Konzerte reicher geworden und haben im Kontext des zeitgenössischen europäischen Jazz einen profilierten, feinsinnigen Gruppensound entwickelt.
Ihre Alben haben Eva Klesse und ihr Quartett bisher im Zwei-Jahre-Rhythmus veröffentlicht; Creatures & States ist das vierte. Bei Miniatures war 2018 als Bassist noch Gründungsmitglied Robert Lucaciu dabei, dann kam für ihn Stefan Schönegg aus der Kölner Szene in die Band. Und noch etwas Einschneidendes passierte 2018: Eva Klesse erhielt als erste deutsche Jazzmusikerin einen Ruf an die Hannoveraner Hochschule für Musik, Theater und Medien und lehrt inzwischen dort Jazz-Schlagzeug.
Das neue Album handelt nicht von konkreten Ereignissen und Veränderungen, sondern – einfach und naheliegend – von Lebewesen und von Zuständen, in die Lebewesen geraten. Einer der schönsten aller Zustände ist das Glück. Wunderbarerweise gibt es unglaublich viele Variationen davon und zahllose Wege zum Glücklichsein. Eva Klesses Komposition „Brushing Hippopotami“, die das Album eröffnet, zeigt einen eher skurrilen Weg: Flusspferde bürsten? Flusspferde, das sind in der Wirklichkeit tonnenschwere dickhäutige Amphibien mit Hängebäuchen. Es geht also nicht um Realitäten. Fürs Irreale passt der distanziertere zoologische Name „Hippopotamus“ besser. Er erinnert vielleicht ein wenig an die niedlichen „Happy Hippos“, die in den 1980er Jahren als werbewirksame und kindgerechte Form einer verführerischen Süßigkeit erfunden wurden.
Eva Klesse erzählt im Booklet aber eine völlig andere Geschichte. Ihre Musik hat nicht mit Flusspferden und Süßigkeiten zu tun, sondern mit einem Traum, der – wie sich das für gute Träume gehört – nicht sehr vernünftig verlaufen ist und der ein lächelnd fragendes und irgendwie zärtliches Gefühl hinterlässt.
Zu jedem Stück des Albums wird im Booklet eine solche anmutige Geschichte zu seiner Entstehung erzählt. Diese Geschichten stehen womöglich nicht nur für die Hörer*innen und Leser*innen da, sondern richten sich auch an das spielende Quartett. Denn sie enthalten Narrative und Bilder für Gefühlszustände, auf die sich die Musik bezieht, auf die es den Komponist*innen ankommt und mit denen sich also die Improvisation auseinandersetzen sollte – wenn man mal vorübergehend diese konventionelle Trennung zwischen komponierenden und spielenden Musiker*innen gelten lässt, die bekanntlich im Jazz nicht gilt.
„Brushing Hippopotami“ nimmt strukturell einen erzählerischen und traumanalogen Verlauf. Aus einem polyphonen, amorphen Intro schält sich eine kleine freundliche Melodie, unten tupft Stefan Schöneggs Bass einen tapsenden Rhythmus, der die Melodie taumelnd eher untermalt als gliedert. Evgeny Ring übernimmt sanft, aber bestimmt mit dem Saxofon die Führung, bleibt dabei zurückhaltend, genau wie das folgende Bass-Solo. Philip Frischkorn am Klavier steigert dann die energetische Situation, unterstützt von Eva Klesse, deren Arbeit am Schlagzeug vor allem klangfarbig und geräuschhaft daherkommt, aber immer wieder auch mit kräftigen Akzenten Steigerungsmomente beisteuert.
In die Energie, die hier nach und nach zusammenfließt, mischt sich kein Hauch von Exaltiertheit. Stets scheint etwas wie eine hellwache Behutsamkeit den Gruppenkonsens zu dominieren – eine Stimmung, mit der man zum Beispiel ein wohlerzogenes Flusspferd im Porzellanladen beobachten würde: ruhig bleiben, weitermachen, bloß nicht erschrecken! Dann ist der kleine Hippo gebürstet, der Traum endet schneller, als er begonnen hat. Aber es ist nicht die schnöde Wirklichkeit, in die er einmündet, sondern ein verwundertes Kopfschütteln: Was war das jetzt? Programm-Musik?

Elastisch
Solche Musik kann nur funktionieren, wenn sie jeglichen ausgetretenen Pfad vermeidet. Beziehungsweise gar nicht erst vermeidet, sondern sich von vornherein nicht in Klischee-Nähe begibt. Nichts darf hier süßlich ausfallen. Keine Niedlichkeiten und Kinderliedchen-Schemen dürfen eine Rolle spielen, das würde alles ins Klebrige ziehen. Und auch Versuche, solcherlei Impulse zu überlagern oder dementierend zu übertönen, sollten auf keinen Fall den Geist des Zusammenspiels bestimmen.
Und hier liegen die traumhaften Qualitäten und der tragfähig-elastische Konsens dieses Quartetts. Alle vier Komponist*innen und spielenden Musiker*innen haben gleichmäßig Anteil daran. Das Quartett ist in der Lage, emotionale Zustände mit klaren und vergleichsweise knappen musikalischen Mitteln zu gestalten. Alle vier beherrschen die hohe Kunst, sich gruppendienlich und im Sinne der gemeinsam gespielten Musik zurückzunehmen, ohne sich zu verleugnen. Sie sind in der Lage, den gemeinsamen Ausdruck zum je eigenen Anliegen zu machen, ohne darin die eigene Individualität preiszugeben. Und sie sind stets wach genug, um beim Spielen all das wegzulassen, was auf einem breiten Mittelweg, den man Mainstream nennen könnte, lauert. Dennoch entsteht nirgends ein Eindruck von Kürze oder gar Lückenhaftigkeit.
Stefan Schönegg begreift diese kollektive Fähigkeit vor allem als eine seltene Qualität im Gefüge der Band und als Folge der gemeinsamen Arbeit. Schon während der Release-Tour des Albums Miniatures, erzählt er, hätten Kompositionen des aktuellen Albums immer schon auf der Setlist gestanden. Die Band hat sich also zwei Jahre Zeit genommen, die individuell eingebrachten Kompositionen in gemeinsamer Arbeit weiterzuentwickeln, sich anzueignen, zu formen. Nur vergleichsweise wenige der neuen Stücke seien bei der Aufnahme der neuen CD noch frisch gewesen. „Alle vier Bandmitglieder haben ihre ausgeprägte eigene Handschrift“, sagt er. „Und es ist wirklich spannend, wie sich aus diesen vier sehr individuellen kompositorischen Handschriften am Ende etwas wie ein gemeinsames Bild fügt.“ Das Quartett sei tatsächlich eine richtige Band in einem sehr empathischen Sinn. „Wir sind miteinander eingespielt, wir spielen viel, und wir mögen uns. Das sagen zwar viele von sich, aber in diesem Quartett ist es schon sehr speziell, das habe ich in dieser Qualität noch nicht gehabt.“
Diese Arbeitsbeschreibung ist zugleich eine Art Wegweiser dafür, wie mit ausgefeilten Kompositionen ein lebendiger Gruppenprozess angestoßen und gefüttert werden kann. Wie es geschehen kann, dass zwischen einem Ausgangsmaterial voller kammermusikalischer Raffinesse, präziser Sound-Konstellationen und durchdachter Planung einerseits und einer gemeinsam erzeugten Freiheit andererseits kein Widerspruch lauern muss. Das komponierte Material, mit dem das Eva Klesse Quartett arbeitet, enthält Freiräume zur Improvisation, versteht diese aber nicht als Leerräume. Alle wissen zu jedem Zeitpunkt immer recht genau, woran sie arbeiten, wie sie das zu tun haben und wie nicht. Und es kann sein, dass die erzählten Geschichten auch dazu beitragen.
Zum tragfähigen Gruppen-Konsens gehört auch eine gleichmäßige Verteilung der musikalischen Verantwortlichkeiten. Jedes Bandmitglied liefert einen Beitrag zum Album und erzählt dazu die passenden Geschichten im Booklet. Jede*r gibt Auskunft über kompositorische Einflüsse, über Konturen, über Bilder emotionaler Zustände und über die Denkhorizonte der eigenen Musik. Das Booklet offenbart so ein erstaunliches Maß an Bewusstheit, mit dem die Musik gestaltet ist, und an Selbstreflexion.
Stefan Schöneggs „Herbstmonat“-Erzählung nimmt Bezug auf den Indian Summer und die Melancholie eines Ausblicks auf die kalten Zeiten am Ende des Sommers. Eva Klesse schreibt nicht nur vom Hippo-Traum, sondern auch von einer Suche nach Antworten bei Arvo Pärt („Choral for P“) und über widersprüchliche und schwer überschaubare Zustände bei der kreativen Arbeit („Einsiedlerkrebs“, „Flirr!“). Evgeny Rings Geschichten handeln von schwer zu ordnenden Eindrücken während der China-Tournee mit dem Quartett („Mr. Liu“) und von Pablo Picassos Blauer Periode („La Vie“). Philip Frischkorns vielgestaltige und traditionsbewusste Kompositionen sind dem verwirrend wohlstrukturierten „Minotaurus’ Labyrinth“ und dem Schriftsteller David Foster Wallace („Hal Incandenza“) gewidmet. Und „Der Tuchmacher“, mit dem das Album endet, scheint irgendwie mit Liebe zu tun zu haben.
Es gibt also in den Erzählungen zu dieser Musik thematisch eine regellose Vielfalt. Und genau darum scheinen sich alle Kompositionen mit großer Intensität zu drehen: um Verwirrendes, um widersprüchliche Zustände und Zwischenhalte, um Aufregung, Vorfreude und andere Mehrdeutigkeiten.
Sorgfalt und Genauigkeit
In einem bemerkenswerten Gegensatz zu diesem thematischen Gewimmel weist die Musik eine insgesamt wohlgestaltete Struktur auf. Gespielt wird mit großer Sorgfalt und Genauigkeit und mit einer großen Liebe zur Nuance und zum Detail. Die Band räumt dem komponierten Material ein bedeutendes Gewicht ein, alle arbeiten mit großer Virtuosität an den Farben, mit denen die Stücke entworfen sind und gemalt werden. Das gibt dem Album insgesamt eine Art impressionistische Gestalt.
Eva Klesse bestätigt diesen Eindruck: „Wir genießen als Band diese kleinen, ruhigen Momente. Es muss nicht immer die große Geste sein, aus der die Musik entsteht.“ Beim Einspielen der Musik im Studio im Kölner Loft habe sich womöglich insgesamt eher eine konzentrierte als exaltierte Atmosphäre in den Vordergrund geschoben, so dass dieser Eindruck von Impressionismus und kammermusikalischer Introvertiertheit begünstigt wird. Ihr Spiel am Schlagzeug scheint in der konzentrierten Studio-Situation eher an Geräuschhaftigkeiten, an Farbgebungen und -mischungen interessiert als an energetischen Ausbrüchen. Eva Klesse versammelt dabei um sich keine Vielzahl von kleinen Klopf-und-Klingel-Perkussions-Instrumentchen, sondern konzentriert sich schwerpunktmäßig auf das, was das Drumset hergibt. Das ist eine ganze Menge.
Überhaupt ist der Verzicht auf Effekte, auf elektronische Klangbearbeitungen und Präparationen des Klaviers ein Bestandteil des musikalischen Konzepts der Band. Alle vier konzentrieren sich aufs Handwerkliche. Es gibt sogar etwas wie einen Hang zum Purismus in dieser Musik. Er ist nicht in Engstirnigkeit und Beschränkung begründet, sondern in einer bewussten Entscheidung für klangliche Klarheit.
Andererseits ist das längst nicht alles. „Live auf der Bühne lassen und nehmen wir uns gegenseitig große Freiheiten“, sagt Eva Klesse. „Wir überraschen uns und steigern uns auch durchaus zu sehr expressiven Spielweisen – auch mit diesem Material.“ Stefan Schönegg findet, dass es bei Konzerten nicht immer, aber manchmal doch geradezu „magische Abende“ gebe, wenn aus der Sicherheit der gemeinsamen Spielerfahrungen spontane Herausforderungssituationen entstehen und sich „ungeahnte Türen öffnen“.
Flexibel und gleichwertig sind die Rollenverteilungen in der Band. „Jeder bringt sich ein“, sagt Eva Klesse. „Ich war nur die Initiatorin und liefere den Namen.“ Es ist eine dichte, kollektive und komplexe Musik, die hier gespielt wird, voller Eleganz und Tiefe, und sie lässt jegliche GEMA-notorische Polarisierung von E und U weit hinter sich. Alles ist hier mit großem Ernst gefertigt. Auch der Spaß am Spielen und die Freude an der Musik.
Ohnehin, schreibt Eva Klesse in der Booklet-Geschichte zu ihrem Stück „Einsiedlerkrebs“, müssten Musiker mit zwei Existenzweisen leben: einem nomadisch-unsteten Leben auf Tourneen, bei dem man in fremden Ländern herumreist mit etwas wie einem eigenen kleinen Schneckenhaus auf dem Rücken, und einer zurückgezogenen selbstreflexiven Existenz, die während des kreativen Prozesses absolut notwendig sei. Creatures & States gibt solchen und anderen Widersprüchen stilübergreifende, lebendig klingende Gestalten.
Aktuelles Album:
Eva Klesse Quartett: Creatures & States (Enja / Yellowbird / Edel:Kultur)
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