Florian Favre - Idantitâ

Florian Favre
Idantitâ
Erscheinungstermin: 21.01.2022
Label: TRAUMTON Records, 2021
Florian Favre - piano, prepared piano and voice
Das bislang letzte Album des Florian Favre Trios, On A Smiling Gust Of Wind, ist schon eine gute Weile her, die Pause bis zum nun vorliegenden neuen Werk Idantitâ hat natürlich auch mit der Pandemie zu tun. Denn an positivem Zuspruch und damit verbundener Motivation hat es dem Pianisten aus der Schweiz bislang nicht gefehlt. Schon früh war sich die heimische und deutschsprachige Presse einig: Favre ist originell und charmant, hochtalentiert und künstlerisch eigenwillig. On A Smiling... wurde sogar in England gelobt, etwa von ukvibe.org: „Favre’s style is wonderfully expressionistic. He plays with an assured touch, sometimes calm and thoughtful, sometimes lyrical and dynamic.“ Die Berner Zeitung Bund hob „kompositorische Finten, dramaturgische Wendungen oder üppige Groove-Passagen“ hervor, das österreichische Magazin Concerto „die subtilen, von Optimismus geprägten Klänge“.
1986 geboren und aufgewachsen in Fribourg (Westschweiz), hat Florian Favre zunächst klassisches Klavier gelernt, dann in Bern Jazz-Piano und Komposition studiert. In der Hauptstadt gründete er auch 2011 die erste Version seiner Band. Während der letzten Monate vor der Pandemie widmete er sich primär seinem noch relativ neuen Projekt Néology, bei dem er auch als Rapper auftritt und das Trio um zwei Bläser und einen Gitarristen erweitert. Im Sommer 2019 zog Favre zurück nach Fribourg, genauer gesagt in einen kleinen, rund 20 Minuten außerhalb gelegenen Vorort. Dann wurde das Sextett von Corona jäh ausgebremst, plötzlich war an Reisen nicht mehr zu denken. Unvermittelt sah sich Favre auf sich selbst zurückgeworfen. „Bald hat sich mir die Frage aufgedrängt, wer und was ich eigentlich bin, wenn ich nicht mehr das tun kann, was ich sonst immer mache.“ Das Nachdenken über die eigene Identität führte zu einigen neuen Kompositionen, vor allem aber zu einer vertieften Beschäftigung mit der eigenen Geschichte. Und letztlich zu seinem zweiten Solo-Album nach 2014.
Ein spektakuläres, vom Fribourgissima Image Fribourg gefördertes und auf dem Lac de la Gruyère gedrehtes Video ( https://youtu.be/KmpFxkWPjDY ) gab Favre den Impuls, sich mit dem musikalischen Erbe seiner Heimat zu beschäftigen. Und es etablierte den Begriff Idantitâ, der später zum Titel einer Komposition und des Albums wurde. Im Video improvisiert der Pianist über Adyu mon bi Payi des Komponisten Pierre Kaelin (1913-1995), der hauptsächlich in Fribourg wirkte. Das Lied erzählt ursprünglich die Geschichte eines Bauern, der vertrieben wurde, weil er seine Milch mit Wasser verlängert hat.
„Nach dem Videodreh habe ich begonnen, weitere Stücke zu suchen, die ich früher in Chören gehört habe. Ich komme aus einer großen Familie, in der viel gesungen wurde, doch hatte mich diese Tradition bislang nicht besonders interessiert.“ Das änderte sich nun. Favre recherchierte und wurde fündig, insbesondere im Gesamtwerk des Komponisten Joseph Bovet (1879-1951), der als Pfarrer und Kapellmeister an die 2000 profane und geistliche Stücke geschrieben haben soll. Darunter Le vieux chalet von 1911, das sich weltweit verbreitete und in diverse Sprachen inklusive japanisch übersetzt wurde. „Meist ist diese 'traditionelle' Musik noch relativ jung“, erklärt Favre. „Bovets Stücke sind sehr populär, obwohl sie nicht im TV oder Radio laufen. Sie sind Teil unseres kollektiven Gedächtnisses und dieser speziellen Chortradition, die wir im Kanton Fribourg haben. Hier gibt es in fast jedem Dorf einen Chor, in dem die Leute unter anderem genau diese Lieder singen.“
Je mehr sich Florian Favre einarbeitete, desto entschlossener adaptierte er die Songs für sich. Er variierte Harmonien und Rhythmen und fügte neue, selbst komponierte Teile hinzu. Ganz im Geiste von Bovet, Rossini oder Berlioz, die ihrerseits das schon 1710 publizierte Stück Ranz des vaches nach ihrer persönlichen Vorstellung bearbeitet respektive in ihrem jeweiligen Werk zitiert haben. Die teils im Patois, dem Dialekt der Umgebung verfassten Titel behielt Favre selbstverständlich bei.
In seinen eigenen Kompositionen greift Favre manche Aspekte des traditionellen Lebens auf, zuweilen auch mit kritischem Blick. Don't Burn The Wich sinniert im 5/8-Takt über die ländliche Haltung, dass jemand, die oder der anders wirkt, nicht in Ordnung ist. „Es wird über Menschen geredet, die sich optisch oder wegen ihrer Meinung unterscheiden, und die werden recht schnell diskriminiert. Beim Schreiben dachte ich an eine Person, die verrückt tanzt, und dafür wollte ich diese Person musikalisch feiern.“ Eine Anerkennung der traditionellen Lebensweise steckt dagegen in The Cowboy. „Der Klischee-Cowboy in amerikanischen Western arbeitet eigentlich fast nie wirklich mit Kühen. Mein Stück ist eine Hommage an die Schweizer Kuhhirten, die bescheiden und ohne viel Aufhebens ihren wichtigen Job erledigen. Ihrer ruhigen Haltung entsprechend spiele ich hier eher sparsam.“ Ein klarer Fall von Selbstironie prägt The dzodzet. „Man nennt hier die Leute aus der Umgebung so und das ist gar nicht abfällig gemeint. Ich hatte allerdings eine Person vor Augen, die herausgeputzt die Straße entlang geht und sich dabei allzu ernst nimmt.“
Schon seit einigen Jahren lotet Florian Favre Möglichkeiten aus, den Flügel so zu präparieren, dass abstrakt-atypische Klänge entstehen. Für die zumindest teilweise rhythmischeren Stücke Nouthra Dona di Maortsè und The dzodzet erzeugt er mittels einer Schachtel Nägel und einem Wörterbuch den leicht scheppernden, Snaredrum-ähnlichen Sound. Im sprunghaft-tänzelnden Don't burn... nutzt Favre Dämpfer aus dem Werkzeugkasten der Klavierstimmer, um die Töne abzustoppen. So kreiert er trockene, stakkatohafte, repetitive Patterns und eine Andeutung von Kick-Drum.
Und wie fügt sich als letztes Stück des Albums Cole Porters I've Got You Under My Skin in das Repertoire ein? „Die traditionell gesungenen Lieder sind Teil meiner Identität, ich trage sie unter meiner Haut“, erklärt Favre. „Letztlich waren sie es, die mich beim Aufwachsen begleitet haben, mehr als Klassik und Jazz. Anfangs empfand ich die ernsthafte Beschäftigung mit ihren als eine Art Herausforderung, weil ich die Stücke gar nicht so sehr geschätzt habe, ihnen also erst eine Chance geben musste. Doch dann wurde es zu einer Liebesbeziehung, vor allem, weil ich sie anders, zeitgemäß interpretiere und eben nicht so spiele wie vor 50 oder mehr Jahren.“ Favre versteht seinen persönlichen Zugriff auf die Überlieferungen insofern auch etwas grundsätzlicher. „Es geht ja nie um die Anbetung der Asche, sondern um die Weitergabe der Glut: neue Blickwinkel und Standpunkte zu entwickeln ist doch stets essentieller Teil einer Evolution.“
Dem ist nichts hinzuzufügen. Mit seinem Album Indantitâ präsentiert Florian Favre stimmungsvolle, lyrische bis kraftvolle Klavier-Musik, die sich einer klaren Kategorisierung entzieht und gleichzeitig viele Anknüpfungspunkte bietet. Ihre unaufdringliche Schönheit ist charakteristisch für den Schweizer Pianisten, dessen Humor und Leichtigkeit nie leichtfertig erscheint.
jazz-fun.de meint:
Das Album begeistert durch seine Musikalität, seinen einzigartigen Zugang zur Musik und seine Sensibilität. Faszinierend sind Atmosphäre, Stimmung und musikalischer Raum dieses Albums. Ich mag die perkussive Behandlung des Keyboards durch Florian Favre sehr. Ein wunderschönes Album, das es wert ist, sofort in Ruhe gehört zu werden. Wir sind begeistert!
- Idantitâ
- Le lutin du chalet des Rêbes
- Don't burn the witch
- Le Ranz des vaches
- Le vieux chalet
- Nouthra Dona di Maortsè
- Adyu mon bi Payi
- Our Cowboy
- La montagne
- The dzodzet
- La Fanfare du Printemps
- I've got you under my skin
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