Heiko Fischer - General Relativity

Heiko Fischer
General Relativity
Erscheinungstermin: 27.10.2017
Label: What We Call Records / Soulfood Believe, 2017
Heiko Fischer - Guitar
Lars Duppler - Piano
Giorgi Kiknadze - Bass
Konrad Ulrich - Drums
Heiko Fischer (geb. 1982), der 2011 mit der Echo-Auszeichnung „Bester Gitarrist National“ für sein Spiel auf seinem ersten Album Lucid ein Debut an der Jazzspitze Deutschlands feierte, das fulminanter nicht hätte sein können, zeigt mit General Relativity einen würdigen Nachfolger. Und er ist aufregend. Hier trifft Konzept auf pure und ungefilterte Emotion, formale Mathematik auf das unsagbar Mysteriöse der Musik, sowie die eigene biografische Vergangenheit auf den ungezähmten Willen nach Weiterentwicklung.
Nach seinem Exkurs im Fischer Spangenberg Quartett 2013 mit dem Album Gateway war es an der Zeit wieder eigene Wege zu gehen. Ihm wurde bei ersten Skizzen und Ideen schnell klar, dass es ein Soloalbum werden musste, das nicht nur aus dem spontanen Spiel im Studio entsteht, sondern konzeptionell tiefer verwurzelt sein soll im biografischen Kosmos Fischers. Dem diplomierten Physiker war immer schon die rätselhafte Beziehung von Musik und Mathematik bzw. Physik ein Faszinosum. „Als ich anfing an diesem Album zu arbeiten, verfolgte ich zur gleichen Zeit ein Onlineseminar über die Allgemeine Relativitätstheorie, um mein Wissen aufzufrischen und alte Fragen neu zu vermessen“, erinnert sich Fischer. Jetzt schien es an der Zeit, sich dieser Auseinandersetzung endlich auf einem Album zu stellen. Ein Risiko, natürlich. Lebt doch der Jazz von der Improvisation und dem Ungeplanten wie kein anderes Genre – da kann zu viel Konzept am Anfang die Arbeit unmöglich machen. Doch die Idee war zu aufregend, zu verführerisch für Fischer. Und die Chance, die sich auftat, war doch die Gefahr des Scheiterns wert. Sollte der Versuch gelingen, wenn auch nur in Teilen, „das Unbeantwortbare in Form von Musik zu beantworten“, so Fischer, wäre ein Jazzalbum mit Ausnahmestatus möglich. Mit dieser Chance vor Augen, ging es an die Arbeit.
Heiko Fischer entwickelte in den folgenden Monaten ein Gerüst für dieses Unterfangen. Die musikalische Auseinandersetzung sollte stattfinden zwischen dem Organischen einer klassischen Quartettbesetzung, die ihm über die letzten Jahre auf unzähligen Konzerten so vertraut geworden war wie eine zweite Haut, und dem Statischen, geradezu Digitalen von Samples, elektronischen Synthesizersounds und krasser Gesangverfremdung. Zwei widerstreitende Pole also, die maximale Spannung aufbauen.
Trotzdem sollte das Quartett live bei der Aufnahme darauf Einfluss nehmen und im Moment reagieren können. „Für eine Jazzplatte war das ein ungewöhnliches Setup im Studio“, erinnert sich Fischer. In der renommierten Fattoria Musica bei Osnabrück mussten schließlich technische Lösungen gefunden werden, die eine derartige Liveaufnahme mit Experimentalcharakter möglich machen. So sollte etwa das Schlagzeugspiel von Konrad Ulrich die Samples auslösen wie sie in Consequence oder Deflection zu hören sind. Musikalische Kausalketten sollten entstehen, die in Unvorhersehbarkeit mündeten, die man „ohne das mathematische Konstrukt nicht greifen“ kann, aber dennoch musikalisch funktionieren. Fischer sinniert: „Physik gerät dort an ihre Grenzen, wo sie nicht mehr eindeutig berechenbar und vorhersehbar ist.“ Hier übernimmt die Musik, hier reagiert die Fantasie und Kreativität der Band im Studio. Das Ergebnis: Handwerklich auf höchstem Niveau bahnen sich E-Gitarrensolos ihren Weg durch die harmonisch höchst anspruchsvollen Strukturen und rhythmisch herausfordernden Figuren. Ein Sound, exakt und gefühlvoll zugleich, klar und dennoch roh und direkt. Man hat das Gefühl einer rasenden Doktorarbeit zuzuhören, heruntergeschrieben in der Manie des Moments, in der Aufregung der Erkenntnis, im Adrenalin der Entdeckung – Musik aus dem Gefühlslabor Fischer. Ein ästhetischer Durchbruch, ohne Frage.
So ging Elektronik und Jazz bis heute noch nicht zusammen. Ein Novum. Es kristallisieren sich Stücke heraus, die historisch gewordene harmonische Ideen von Prokofiew zitieren und mit Subbässen so massiv wie bei James Blake verschränken. Eine Akustikgitarre haucht der Computerstimme bei You Don’t Know What Love Is eine Emotionalität ein, die die Komposition an sich nicht anzudeuten vermochte. Es entstehen „Zeitbrücken von damals zu heute“, beschreibt Fischer. Dass dieses Album bei aller Raffinesse und Konzept dennoch so leicht und natürlich daherkommt, ist die vielleicht größte Leistung von Fischer. Hier hat die Idee nichts erdrückt, nichts weggenommen. Man hat das Gefühl, es multiplizieren sich die Elemente miteinander in ihrer Wirkung. Heiko Fischers Einführung in die allgemeine musikalische Relativitätstheorie zeigt wie Jazz 2018 funktionieren kann:
Persönlich und enigmatisch zugleich, herausfordernd und dennoch schlüssig, keine allgemeingültige Antwort, aber ein geglücktes Experiment: eine neue Sichtweise.
- Consequence
- Deflection
- Equations
- YDKWLI
- Geometry
- History
- Horizons
- Singularities
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