Die barocken Wurzeln der Swing-Musik - Simone Kermes - Händel himmlisch!

von Cosmo Scharmer

Simone Kermes
Simone Kermes

Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie 24.03.2019

Schön und gut, aber was haben die klassische Sopranistin und der Meister der Barockmusik mit Jazz zu tun? Wer diesen Artikel bis zum Ende zu lesen vermag, der wird den Versuch einer Antwort finden. Kommen wir zum Konzert.

Die Verehrung für Händel war und ist bei Simone Kermes unübersehbar, mehr noch, unüberhörbar. Dennoch war das Konzert mehr als „nur“ Händel. Weitere barocke Komponisten wie Vivaldi und Porpora steuerten famose Themen bei. Was die Kapelle oder das Orchester betrifft, so hat sich Simone Kermes ihre Musiker der Amici Veneziani selbst zusammengesucht, handverlesen. Wechseln wir in den Jazz-Jargon. Diese „Combo“ – bestehend aus den üblichen Streichinstrumenten von Violinen, Bratsche, Cello und Kontrabass – wurde durch eine barocke Laute (Theorbe), ein Cembalo und durch die Holzbläser von Fagott und Oboe verstärkt. Eine Big Band light, sozusagen, die musikalisch hielt, was versprochen wurde. Der kammermusikalische Saal der Philharmonie gab sich alle Mühe – durch geschickte Beleuchtung - das Ambiente eines intimen Jazzclubs zu imitieren. So korrelierte das Licht mit Musik wie Garderobe: vom sanften Licht mit ruhigen Farbtupfern bis zum betörenden Rot in Lavafarben. Jegliche Art der Verführung sei erlaubt, mag Simone Kermes bei der Konzeption ihrer Beleuchtung wohl gedacht haben. Solch ein Licht ist für klassische Konzerte sehr ungewöhnlich, aber dies ist heute ein swingender Jazz Club. Und das Publikum? Das erfüllte durch seine Anwesenheit die – wie auch Simone Kermes treffend bemerkte – notwendige Bedingung, um das Konzert stattfinden zu lassen.

Es geht direkt zur Sache: Eine swingende Ouvertüre von Händel erwärmt die Musiker und lockt das Publikum. Dann ist auch schon Simone Kermes auf der Bühne, ihr Kleid zeigt anmutiges Barock, später ersetzt durch ein maßgeschneidertes Fantasie-Design. Eine Arie aus Händels Rinaldo weist die Richtung, in die sich das Konzert bewegen wird: eine kraftvolle und leidenschaftliche Darbietung auf höchstem technischen Niveau. Perfektion nennen klassische Hörer diese Form der künstlerischen Präsentation. Jazz-Ohren müssen dem zustimmen, können aber noch was draufsetzen. Nanu, was denn? Der Leser wird es erfahren.

Das musikalische Spektrum der Themen ist weit gefächert und umfasst musikalische Inhalte wie sanfte Balladen, traurige Elegien, trotzige Aufschreie, dramatische Intrigen und schmetternde Wutausbrüche, dann wieder versöhnende Liebesbeweise, aufblitzende Hoffnungen und Glückseligkeit. In diesen Arien spiegelt sich das menschliche Leben in all seiner Vielfalt, Widersprüchlichkeit, Tragik wie Komik, Kunst und Kitsch und eben auch Größe. Aber hier ist wohl das barocke Leben gemeint? Ja und nein. In der historischen Ausprägung ist diese Musik barockes Leben, aber in der Präsentation, so wie sie hier und jetzt den Hören um die Ohren fliegt, ist dies zeitgenössische Kunst, modernes Leben. Das dies so gelingt ist – neben den himmlisch swingenden Kompositionen und den vorzüglichen Musikern - das Verdienst, die Kunst von Simone Kermes. Es ist auch von Vorteil, die Texte in italienischer Sprache nicht zu verstehen. Einerseits würden die aus heutiger Sicht – doch merkwürdigen - Texte irritieren, anderseits ist das Verstehen der Texte nicht erforderlich, die Musik, der Gesang sprechen für sich.

Auch sprechend schlägt Simone Kermes ihr Publikum in den Bann. Gutgelaunt informiert sie über ihren Freundes- und Unterstützerkreis, bedankt sich herzlich bei ihnen für die Verteilung ihrer Flyer und beim Publikum für sein Kommen. Und überhaupt: Die sächsische Neuberlinerin ist selig, dass ihr erstes selbstveranstaltendes Konzert hier stattfinden kann. Und sie weiß – so wie sie später ausführt, dass es gut werden wird. Nein, hier irrt die Sopranisten: es wird, es ist überwältigend fantastisch.

Simone Kermes
Simone Kermes

Die Sopranistin singt ihre Arien nicht. Nein, sie lebt sie. Simone Kermes erweckt die Musik zum Leben. Dies mit einer Stimme, die alles ausdrückt, was technisch wie emotional möglich ist. In ihrer Stimme ist Entsetzen, Ärger, Versöhnung, Triumph, Nachsicht, Güte, Mut, Aufbruch, Trauer, Erotik und noch so viel mehr, eben das gesamte Leben schlechthin. Aber nicht nur mit ihrer Stimme legt sie die Magie der Kompositionen frei, sie verzaubert das Publikum mit ihrer kompletten Physis: ihre Mimik, der schwingende Kopf, die rollenden Augen, die Gesten der Hände, die Schritte der Füße, der ganze Körper ist in Bewegung. Die Künstlerin bietet ihre Musik dem Publikum als Geschenk an. Dieses will ihr Geschenk auch annehmen. Will? Nein, muss es annehmen, kann gar nicht anders.

Denn was die Stimme von Simone Kermes verursacht ist nichts weniger als ein tektonisches musikalisches Erdbeben, der Ausbruch eines Vulkans oder das Hinwegfegen eines Orkans. Diese Frequenzen verschonen keinen der Anwesenden. Die Töne treffen direkt in Herz, Geist und Seele. Diese Emotionalität, diese Passion, diese Rhythmik, dies alles macht aus der klassischen Solostimme eine Farbe des swingenden Jazz. Was im Jazz die hohe Kunst der Improvisation ist, vermag die Sopranistin durch die Koloratur wettzumachen. Diese hohen und höchsten Vokale tönen wie die Improvisationen der Jazz-Klassiker. Da ist das stringente Spiel des Sopransaxofons von John Coltrane, die Schleifen des Altsaxofons von Ornette Coleman und Eric Dolphy, die Tenorballaden eines Coleman Hawkins und Michael Brecker …. samt aller Magie. Das Publikum ist zuerst neugierig, dann betroffen, gleich darauf verzaubert, dann von Sinnen. Mit stehenden Ovationen darf (muss) sich das Publikum Luft machen. Sich derart austobend, erklatschen sich die Anwesenden vier fulminante Zugaben. Bleiben noch Wünsche offen? Nein, was die barocke Klassik betrifft. Ja, was die Anzahl der Konzerte in Berlin betrifft. Bitte mehr davon!

P. S. Streng klassisch geschulte Leser mögen dem Autor diesen unerhörten oder gar unverschämten Ansatz einer Konzertbesprechung mit den Ohren der Jazzkritik verzeihen.

Text: Cosmo Scharmer

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