Wiedergutmachung in der Berliner Werkstatt der Kulturen 14.12.2019

von Cosmo Scharmer

Adam Baldych
Adam Baldych, Foto: Jacek Brun

Die Musik entspringt der Feder des virtuosen Jazzgeigers Adam Baldych und war Anlass für den Berliner Korrespondenten von jazz-fun.de das Theaterstück zu besuchen. Eine Würdigung von Cosmo Scharmer.

Drehbuch und Regie - Monika Dobrowlanska
Es spielen – Vadim Grakovski, Dorothee Krüger, Barbara Prokopowicz u.a.
Stimme – Volkmar Leif Gilbert
Musik - Adam Baldych
Bühne – Ekaterina Skladmann
Video/Grafiken – Yukihiro Ikutani

Das Ambiente

Ein spärliches Bühnenbild, dunkel gehalten, wenige Requisiten, eine Suppenschüssel in der Mitte der Bühne, eine Schaukel, eine großflächige Leinwand im hinteren Teil der Bühne, die teils weiß belassen ist, teils Grafiken anzeigen wird. Die für Musik zuständige Violine versteckt sich einsam in der Ecke.

Die Musik

Die Musik des Jazzgeigers Adam Baldych unterstützt die gespielten Szenen, ist aber nicht wesentlicher Bestandteil der Dramaturgie. Die Tonfolgen haben die Intention, die auf der Bühne dargestellten Inhalte zu illustrieren, zu verstärken oder auch zu ironisieren. Auf demonstratives virtuoses Spiel wird weitgehend verzichtet. Stattdessen wird in einigen Sequenzen versucht, menschliches Leid hörbar zu machen. Die folgende Beschreibung der Musik ist eher beispielhaft als streng chronologisch zu lesen.

Die Musik ist sparsam: wenige, nur gezupft Töne lassen eine einfache Melodie erklingen, die mitunter sogar ein wenig unbeschwert erklingt. Eine subtile Ironie ist zu spüren.

Die gestrichene Violine – eher einer eigens konstruierten Viola entsprechend – klingt sperrig. Die Spielweise steigert sich dramatisch mittels freier Akkorde, die über mehrere Saiten schnell geschlagen werden. Kein Jazz, wenig Harmonien, hohe Verstörung.

Die Geige wird klassisch gestrichen. Zu hören ist ein vorsichtiges Herantasten an zerbrechliche Melodien. Leicht traurig tönen die Weisen, mit einem wehmütigen Hauch von Klezmer. Wenn Klezmer für melancholische Harmonien in der Tradition osteuropäischer Juden zu verstehen ist.

Die sich wiederholenden Sequenzen variieren nur leicht, erzeugen einen strengen monotonen Klangcharakter. Diese Tonfolgen werden aufgezeichnet und dann digital wiedergegeben. Darüber legt Adam Baldych seine Improvisationen. Das ist kein Schönklang, das sind keine gefälligen Melodien und Harmonien, das sind keine akzentuierten Rhythmen. Das ist brachiales Schruppen und gewalttätiges Schrammeln mit dem Bogen über alle Saiten des Instruments. Das ist der schwierige musikalische Versuch, mittels schrill klingender Monotonie und Fehlfarben menschliche Tragödien und Katastrophen auszudrücken.

Inhalt und Handlung – die ersten Szenen

Zeitzeuge
Kleidung und Sprache weisen den Zeugen als älteren Mann aus, seine Sprache ist des Deutschen mächtig, weist jedoch auf die Umstände hin, wo und wie sie erworben wurde: ein zur Arbeit gezwungenes Kind im polnischen Ghetto während der faschistischen Schreckensherrschaft.

Sachbearbeiter/Richterin
Eine junge Frau vertritt in einer Art Doppelrolle – als Sachbearbeiterin, sowie als Richterin - die bürokratische Logik des dt. Renten- und die des Justizsystems. Es entsteht ein fiktiver Dialog, der zwischen den formalen Anforderungen des Rentensystems und den Erinnerungen des Zeugen, ein Spannungsfeld aufbaut.

Worum es geht:
Den Nachweis zu erbringen, dass die Arbeitsleistungen dieser Ghetto-Kinder auch wirklich erbracht wurden. Dann nämlich, so will es ein Bundesgesetz, können die Leistungen aus der dt. Rentenkasse bezahlt werden.

Ein ärmlich gekleidetes Paar kämpft – auf dem Boden rollend – um eine Schüssel, damit um karges und klägliches Essen. Alltag im Ghetto. Die Schüssel als Symbol des (Über-)Lebens.

Das Aufeinanderprallen zwischen den Anforderungen an „berechtigten“ Leistungen aus der Kasse und den Erinnerungen der Überlebenden ist brutal, ja zynisch. Hier wird im Sinne eines - für ein normales Arbeitsleben konzipiertes – erforderlichen Formulars nach konkreten Zeiten, Orten, Bezahlung und Zeugen gefragt. Dort gibt es nur vage Erinnerungen an das Geschehen. Es ging ums Überleben der Kinder, da waren exakte historische Arbeits-Daten nicht wichtig. Und die allermeisten Zeitzeugen „entfielen“ wegen ihrer späteren Ermordung in den Konzentrationslagern. Das Ergebnis der Rentenüberprüfung durch die Behörde, dann durch die Justiz ist: alle Rentenanträge werden abgelehnt.

Das Bundessozialgericht und sein Richter

Das Problem sind die konkreten Daten, die nicht mit den persönlichen Erinnerungen in Übereinstimmung zu bringen sind. Da nach „normaler“ Rentenlogik diese Nachweise erbracht werden müssen, die Antragsteller das aber nicht können, werden alle Anträge abgelehnt. Die dann erfolgten Klagen landen beim zuständigen Bundessozialgericht von Nordrhein-Westfalen in Essen. Hier kommt die Rolle des zuständigen Richters Jan-Robert von Renesse ins Schauspiel.

Der geht andere, unkonventionelle Wege. Wenn die Formulare nicht geeignet sind, die Nachweise zu erbringen, so sollten und müssten die Antragsteller eben vor Ort befragt werden. Und das ist fast immer Israel. Eine pragmatische, humanistische Idee, die auch umgesetzt wird, jedoch zuerst das Unverständnis, später den Widerstand der Kollegen im Sozialgericht hervorruft. Das gipfelt sogar in einem Disziplinarverfahren gegen den Richter, nachdem er sich brieflich an den damaligen Bundestagspräsidenten zwecks Unterstützung wandte. Vom zuständigen NRW-Justizminister wurde das Vorgehen des Richters als eine Rufschädigung der Justiz angesehen. Eine absurde Logik der Politik.

Weitere Szenen

Auch die folgenden Szenen gehen unter die Haut. Die Problematik des Rentenanspruches schält sich weiter heraus, artikuliert durch die Schauspieler in den Dialogen und ergänzender Texte vom Band sowie Videos. Die bringen es auf den Punkt: den Nachweis erbringen. Dann nämlich, so will es ein „eigentlich gut gemeintes Bundesgesetz“ (Jan-Robert von Renesse), können die Leistungen aus der dt. Rentenkasse bezahlt werden.

Die zwei wesentlichen Handlungsstränge werden schauspielerisch unterschiedlich umgesetzt. Die Schilderungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen im Ghetto werden eindrucksvoll in den Dialogen zwischen den Zeugen und Verkörperung des deutschen Sozial- und Rechtssystems durch die Schauspielerin, die auch in die Rolle einer Journalistin steigt, erreicht. Das ist emotional bewegend, erreicht seine Wirkung. Das ist klassische Schauspielerei. Sowohl dramatisches als auch episches Theater, angereichert mit den Aspekten eines grausamen Theaters.

Skizzierung einiger Szenen – Versuch einer freien wörtlichen Wiedergabe der Dialoge zwischen Zeitzeugen und Sachbearbeitern (Rente/Justiz)

Behörde:
Was haben Sie dort gearbeitet?

Zeuge:
Als Laufbursche für den Judenrat. Theresienstadt war kein Vernichtungslager, „nur“ ein Konzentrationslager. Die 35.000 Toten sind ganz normal gestorben, an Krankheiten und Hunger.

Behörde:
Konnte man die Arbeit ablehnen?

Zeuge:
Nein. Bei einem Ja gab es nur Abtransport oder sofortige Tötung. Ich konnte für einen SS-Mann das Lied „Ich hatte einen Kameraden“ spielen. Das rettete mir das Leben.

Behörde:
Haben Sie Deutsch gelernt? Wurde bei der Arbeit Deutsch gesprochen?

Zeuge:
Es wurde mir eingeprügelt. Dann wusste ich, was eine Kreuzhacke ist. Der SS-Mann fragte: Wer will freiwillig erschossen werden? Ich meldete mich, da mir klar war, ich musste sowieso sterben. Eine Kugel ist zu schade für dich, war die Entgegnung. Da war ich 16 Jahre alt.

Behörde:
Gab es Geld für die Arbeit bei Schindler?

Zeuge:
Nein, kein Geld, kein Essen, nur ein bisschen Suppe. Was für eine Suppe.

Publikumsdiskussion

Warum Unverständnis und Widerstände gegen den mutigen Richter sich derart hochschaukelten, erschließt sich dagegen viel schwieriger. Seinen Brief an den Bundestagspräsidenten gibt es nur auf der Leinwand und wird von vielen nicht verstanden. Die Äußerungen der Anwesenden im anschließenden Publikumsgespräch weisen darauf hin. Zu Recht, wie die Regisseurin bemerkt und dies stärker herausstellen will. Der ebenfalls anwesende Jan-Robert von Renesse und die involvierten, sehr sachkundigen Anwälte konnte diesbezüglich nicht alles, aber doch vieles erläutern.

Im Rahmen der bundesdeutschen Arbeitsteilung war NRW für Israel zuständig, aus dem die meisten Antragsteller stammten. Die oben geschilderten Probleme gab es aber nur in NRW, so Jan-Robert von Renesse. In Hamburg dagegen, das für die Antragsteller aus der USA (ebenfalls viele Gesuche) zuständig war, wurde anders verfahren: human und unbürokratisch. Das kommt leider im Theaterstück nicht zum Tragen. Bevor nun das gesamte deutsche Justiz- und Rentensystem zu schelten wäre, was das Publikum ausgiebig tut, gilt es zu differenzieren. Das ist aber keine Entschuldigung für das menschlich unwürdige und politisch dumme Verhalten der NRW-Justiz und- Politik.

Fazit

Dass sehr komplexe historische und politische Sachverhalte nicht oder nur extrem aufwändig im Theaterstück zu vermitteln sind, wird deutlich. „Wiedergutmachung“ ist ein schwieriges, ironisch zu verstehendes Stück über deutsche Geschichte und Zeitgeschichte. Über historischen Verbrechen, das Überleben sowie aktuelle Dummheit und einen Helden. Es wäre wohl für Jugendliche in Schulen besonders wichtig, darüber zu sprechen. So wie es im Stück artikuliert wird: Die Veränderung des menschlichen Bewusstsein hat die Katastrophe des Holocaust verursacht. Das war ein Versagen der gesamten europäischen Zivilisation. Heute gehe es darum, der Jugend beizubringen, was Leben ist.

Text: Cosmo Scharmer
Fotos: Lena Kern, © multicultural city e.V.
Foto von Adam Baldych: Jacek Brun (jazzahead! 2019)

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