Nanny Assis - Rovanio

Nanny Assis
Rovanio
Erscheinungstermin: 23.06.2023
Label: IN + OUT Records, 2022
Ron Carter, Randy Brecker, Chico Pinheiro, Dani Assis, Igor Butman, Lakecia Benjamin, Janis Siegel, Fred Hersch & many more...
Nanny Assis erblickte am 25. August 1969 in Salvador, Bahia, im Nordosten Brasiliens das Licht der Welt. Sein richtiger Vorname ist Rovanio, doch wie Nanny gesteht: „Ich mochte den Klang dieses Namens nicht, als ich jung war“ erklärt er. „Ich dachte, ‚Rovanio‘ wäre für die Leute schwer auszusprechen oder zu merken. Seit meiner Kindheit habe ich den Spitznamen Nanny. Bis jetzt haben nicht viele Leute meinen richtigen Namen gekannt“.
Im Alter von sieben Jahren, zeigte sich seine musikalische Begabung erstmals vor einem Publikum - oder besser gesagt, vor einer Gemeinde. „Mein Vater war Pastor, ich wuchs mit Kirchenmusik auf. Mein erstes Instrument war das Schlagzeug, das ich in der Kirche spielte, und ich sang im Jugendchor.“ Gitarre lernte er intuitiv, ganz einfach, weil das Instrument in der brasilianischen Kultur allgegenwärtig ist.
So begann Assis, sehr zum (anfänglichen) Missfallen seiner Eltern, Geld zu verdienen, indem er mit seinen Freunden weltliche Musik spielte. Er spielte Rock in Clubs, Samba auf dem Karneval und entdeckte den Jazz, nachdem er in einem Plattenladen in Salvador die amerikanische Musik entdeckte.
Obwohl er an der Katholischen Universität von Salvador Linguistik und portugiesische Literatur studierte und danach eine Zeit lang als Schriftsteller arbeitete, hatte Assis immer vor, Berufsmusiker zu werden. Selbst als er heiratete und in Salvador eine eigene Familie gründete, hegte er den Wunsch, in die Vereinigten Staaten zu gehen. „Ich fühlte mich sehr zur amerikanischen Musik hingezogen, und viele der Alben, die ich liebte, waren Live-Alben“, sagt Nanny. „Wir bekamen in Bahia nicht viel Amerikanische Live-Musik zu hören. Diese Alben gaben mir aber das Gefühl, dass ich in die Staaten gehen musste um die dortige Musik hautnah kennenzulernen.“
Diese Gelegenheit bot sich 1993, als die in Austin, Texas, ansässige Band Rolling Thunder Auditions für Samba-Percussionisten veranstaltete. Assis bestand und kam als Mitglied der Band mit nach Texas, um mit ihnen durch die USA und Europa zu touren. Das war der sprichwörtliche Fuß in der Tür. Nanny suchte immer wieder nach Gelegenheiten, in den USA zu arbeiten, und zog schließlich 1999 nach New York, wo er sich rasch einen Namen als Samba- und brasilianischer Jazzmusiker machte, als Leader wie auch als Sideman. Obwohl Assis sich selbst als Samba- und nicht als Jazzmusiker versteht, sind es die Jazzer, die am häufigsten mit ihm zusammenarbeiten.
Auf seinem 2006 erschienenen Debütalbum Double Rainbow wirkten Jazzgrößen wie John Patitucci, Eumir Deodato, Michael Leonhardt und Erik Friedlander mit. Bei seinen nachfolgenden Projekten arbeitete er mit Arthur Lipner (Brazilian Vibes von 2010) und Janis Siegel und John di Martino (Requinte Trio von 2014). Nanny tat sich auch als Produzent diverser Alben verschiedener Genres hervor.
Nach seiner nunmehr 40-jähriger Karriere als Musiker hat sich Nanny Assis ein gewichtiges Ansehen als Bossa/Jazz-Sänger, Perkussionist und Gitarrist erarbeitet. Für den heute in New York und Südflorida lebenden Künstler, der ursprünglich aus Bahia stammt, war es nun die Zeit, ein Album zu produzieren, dass seine musikalischen Einflüsse zusammenbringt. „Meine musikalische Heimat ist Brasilien, aber durch mein Leben habe ich so viele verschiedene Stile und Wurzeln in meinen musikalischen Background mit aufgenommen“, sagt er. „Nun wollte ich ein Album präsentieren, das mein wahres Ich zeigt“.
Dies war dann auch der Grund für den Titel des Albums: Rovanio, der früher ungeliebte reale Vorname. „Eigentlich wollte ich das Album mit The Music of Nanny Assis and Friends betiteln“, sagt Nanny. Rovanio war mir letztendlich aber die persönlichste Variante.
Das Album ist in der Tat ein bemerkenswertes Kaleidoskop von Stilen, Texturen, Ideen und Sprachen, aber es entfernt sich nie von den unverwechselbaren brasilianischen Elementen, die die Grundlage von Assis‘ Musik bilden. Das muss es auch nicht: Das Kaleidoskop selbst ist Teil dessen, was die Musik des Landes so besonders macht.
„Brasilien war eine portugiesische Kolonie“, betont Assis. „Und so ist Portugiesisch meine Mutter- sprache. Interessanterweise hat das Land aber auch die zweitgrößte Konzentration von Japanern auf der Welt, was in Europa wohl niemand weiß. Und in Bahia, wo ich herkomme, sind 75 Prozent der Bevölkerung afrikanischer Abstammung. Es gibt eine japanische und eine arabische Gemeinschaft. Das heißt, allein aus meiner Heimat habe ich einen Schmelztiegel der Kulturen kennengelernt. Das zeigt sich letztendlich auf seinem nunmehr erscheinenden Album.
Auf den zehn Tracks von Rovanio treten nicht weniger als 20 Künstler auf plus den St. Petersburg Studio Orchestra, das bei drei Stücken mitspielt. Auf Rovanio versammeln sich illustre Größen wie Bassist Ron Carter; Gitarrist Chico Pinheiro; Trompeter Randy Brecker; Pianist Fred Hersch; die Saxophonisten John Ellis, Igor Butman und Lakecia Benjamin sowie die Sänger:innen Janis Siegel, Vinicius Cantuária, Emanuel Yerday, Laura und Dani Assis.
Hierin zeigt sich, dass Nanny ein echter und enthusiastischer Team Player ist. Bis auf einen Klassiker sind alle Songs kompositorische Kollaborationen. „Ich habe mich jeweils mit einem Musiker zusammengetan, um entweder den Text oder die Musik zu machen.“ Neben dem Standard, „Manhã de Carnaval“ haben Assis und der Gitarrist Chico Pinheiro alle Stücke gemeinsam arrangiert.
Ron Carter, die Basslegende des Jazz, steht mit seiner Komposition „Mr. Bow Tie“ im Fokus, zu der Assis einen Text mit dem Titel “No Agora.” geschrieben hat. Randy Breckers großartiges Flügelhorn und die üppige Begleitung des St. Petersburg Studio Orchestra machen das Stück zu einer Reminiszenz an die Bossa-Nova-Platten der 1960er Jahre (von Astrud Gilberto und Antonio Carlos Jobim), auf denen Assis Carter erstmals brasilianische Musik spielen hörte.
Die Musik für “Nenhum” schrieb Assis in seinen frühen brasilianischen Tagen zusammen mit dem Dichter Paulo Alcoforado, einem lebenslangen Freund. „Der Song handelt von den vielen ‚Ichs‘ in einem selbst – all die Stimmen, die eine Person in sich selbst hören kann“, erklärt er. „Du bist all diese Menschen, aber es ist besser, keiner von ihnen zu sein.“ Während Pinheiro ein wunderschönes akustisches Gitarrensolo spielt, steht das Orchester hier im Mittelpunkt und untermalt kongenial Assis‘ leidenschaftlichen Gesang mit einer feinen Dramatik.
“Manhã de Carnaval,” ein Klassiker, ist natürlich das Thema aus dem Film Black Orpheus von 1959. Assis nahm den Song auf, nachdem er Carter für das Projekt gewinnen konnte. Assis war schon lange von Carters Konzept des brasilianischen Jazz begeistert und fand, dass der Antonio Maria/Luiz Bonfá-Klassiker hervorragend dazu passen würde.
Musikliebhaber könnten “Amor Omisso” sofort mit Manu Dibangos Afrobeat-Hit „Soul Makossa“ aus dem Jahr 1972 in Verbindung bringen: das Übermaß an Perkussion, das gesangliche, tiefstimmige gesprochene Wort (Yerday), der plötzliche Ausbruch des Saxophons (Benjamin). Die brasilianische Herkunft des Songs wird durch sanfte Akustikgitarren und Assis‘ portugiesischen Gesang schnell deutlich. Doch der afrikanische Vibe ist kein Zufall. „Auf dem Album sind diverse afro-brasilianische Grooves enthalten“, sagt Assis. „Wir beginnen mit 5/8, gehen dann zu 4/4 und dann zu 6/8 über.
Chico Pinheiros “Tempestade” (Human Kind) gehört spätestens seit 2005, Releasejahr seines Debütalbums eben mit diesem Track, zum festen Bestandteil des Repertoires des Gitarristen. „Es hat mich umgehauen“, erinnert sich Assis, der besonders von der Verbindung des seltsamem Rhythmuses mit der Lyrik des Songs angetan ist. Er schrieb (mit Hilfe seines Freundes, des Jazz-Radiomoderators Mark Ruffin) den englischen Text “Human Kind” dazu. Assis‘ gefühlvoller Duettpartner bei diesem Song ist sein Sohn Dani, der derzeit sein Gesangsstudium am Oberlin Conservatory abschließt.
Assis‘ Tochter Laura schrieb den wehmütigen Text zu „Back to Bahia“, als sie sechs Jahre! alt war. Die Familie war gerade von Brasilien nach New York gezogen, und das kleine Mädchen mit Heimweh schrieb ihre Gefühle in erstaunlicher Poesie nieder: „Der Wind weht durch die Palmen und erzeugt die Rhythmen von Bahia“. Assis war von ihren Worten so bewegt, dass er sie vertonen musste mit von der Natur inspirierten Rhythmen unterstrichen.
Fred Hersch schrieb, arrangierte und spielt seine Komposition „Mandevilla“, dem der portugiesisch- englische Text von Assis, seinem Sohn Dani und Janis Siegel den alternativen Titel „Proponho“ gibt. Das traurige Liebeslied erhält durch den Harmoniegesang von Siegel, mit der Assis seit Jahren in seinem Requinte Trio zusammenarbeitet, eine zusätzliche Ebene.
“The Northern Sea” enthält Texte, die gemeinsam mit Siegel geschrieben wurden. „Es ist ein sehr schwer zu singendes Lied“, sagt Assis über die Melodie seines Freundes Ivan Bastos. „Es war nie für einen Text gedacht, also gibt es keinen Raum zum Atmen“. Assis meistert diese Herausforderung mit Bravour, bereichert um die Soli von ihm und Ellis.
Zusätzlich zu ihrer Wortkunst beweist Laura Assis ihr Talent als Sängerin mit ihrer Leadstimme (mit Unterstützung ihres Vaters) bei Assis‘ Komposition mit Morrie Louden, dem beschwingten „Insensatez“ – nicht zu verwechseln mit dem Jobim-Song, der auf Englisch „How Insensitive“ heißt.
“Intimate Acquaintances,” der flotte, ironische Abschluss des Albums, stammt aus einer preisgekrönten Off-Broadway-Partitur, die Assis zusammen mit dem Texter Matt Gurren geschrieben hat. Wir hören Ron Carter am Bass, Ulysses Owens Jr. am Schlagzeug und Assis selbst am Gesang, mit ein wenig zusätzlicher Hilfe von Mattan Klein -einem Freund aus Tel Aviv- an der Querflöte, um die Sache mit einer verschmitzten, beschwingten Note abzurunden. So zeigt dieser Song die enge Zusammenkunft von Freunden, die einen charmanten und intimen Song zelebrieren, um abschließend der Welt den echten Nanny Assis zu zeigen.
jazz-fun.de meint:
Dieses Album ist ein Zeugnis der "guten alten Zeit", als Lieder noch Geschichten erzählten und einfach schön waren. Ein Grund mehr für mich, dieses einzigartige musikalische Material zu empfehlen, auf dem Nanny Assis auf ihre ganz eigene Weise die gesungene Erzählung leitet.
- No Agora
- Nenhum
- Manha De Carnaval
- Amor Omisso
- Human Kind
- Back To Bahia
- Proponho
- The Northern Sea
- Insensatez
- Intimate Acquaintances
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