Wynton Marsalis Jazz at Lincoln Center Orchestra in der Berliner Philharmonie am 18.10.2021

Wynton Marsalis
Wynton Marsalis, Foto: ©Stephan Rabold

Seine Musik ist eine Hommage an den traditionellen Sound von Louisiana und an die Vielzahl klassischer Jazz-Stile, die Wynton Marsalis und das Orchestra in einer aktuellen Ausprägung höchst lebendig halten. Alle Mitglieder der Band zeigen in ihren Soli worum es geht: kurze, aber auf das Wesentliche des Themas konzentrierte Improvisationen voller Kraft und Ausdruck. Hier stellt sich das Orchester in all seiner Individualität als ein Klangkörper vor, der einen sehr verdichteten Sound kreiert: Featuring the Big Band.

Ansage und Laudatio des heutigen Geburtstagskindes sind kurz bemessen, um dem Konzert keine Zeit abzuknapsen. Die Titel im Detail.

Dezent mit geschliffenen Bläsersätzen swingend stellt sich das Orchester vor. Das erste Solo gehört dann Wynton Marsalis, dem Primus Enter Pares. Da tönt eine klassisch swingende Jazz-Trompete mit schneidendem Ton über einer dezenten rhythmischen Basis eines Quartetts innerhalb der Big Band. Titel und Charakterisierung könnten auch lauten: Featuring das Geburtstagskind. Derart schmettert und jubiliert sein Horn. Dann ist die brillante Posaune von Elliot Mason an der solistischen Reihe. Jetzt tragen die Holzbläser erste, noch vorsichtige Farbtupfer in das Geschehen auf, und schon findet der Aufmacher sein Ende.

Ein kurzes Intermezzo des Pianos leitet den 2. Titel ein, der sich als gediegene Ballade entpuppt. Eingeführt und ausgebaut werden Melodielinie und Thema durch die Trompete von Kenny Rampton, der eine jazzklassische Geschichte erzählt. Tieflagig runden Barton-Sax und Kontrabass von Carlos Henriques das ruhige Stück ab.

Wynton Marsalis
Wynton Marsalis, Foto: ©Stephan Rabold

Mit Latin geht´s weiter. Ein Ostinato-Motiv von Bass und Piano sorgen für den Rahmen, in dem sich Laute des Dschungels entfalten können. Die schrillen und schreienden Lautmalereinen kommen von den Saxofonen. Das ist mehr als nur ein Aufblitzen für den Duke, eher eine witzige Hommage. Eine einfach gehaltenes Thema bildet die Grundlage für dieses Tier- und Vogelkonzert. Der Drummer beschränkt sich – neben der Bass- Drum – auf ein Schlagen eines Tamburins. Die Posaunen erzeugen mittels Dämpfer ihre Growl-Laute und nach und nach vervollständigt die ganze Band mit kurzen solistischen Aufschreien diesen Dschungel-Sound. Da steckt auch viel vom Schalk eines Monks und eine gehörige Portion Ironie drin.

Wynton Marsalis stellt jetzt und zukünftig die Musiker vor, die entweder die Komposition beigesteuert haben und/oder die Hauptsolisten sein werden. So wie beim Bariton-Saxofonisten Paul Nedzela, der die führende Stimme in dieser Ballade übernimmt. Zusätzlich können die übrigen Holzbläser glänzen, die ihre herbstlichen Klangfarben in die Ballade streichen. Gelegentlich verursachen die Blechbläser kurze, aber wirkungsvolle Blitzeinschläge mit ihren Sätzen. Gestopfte Trompete und Bariton-Sax schmücken dann diese Herbstballade farblich und harmonisch weiter aus.

Der nächste - von Wynton Marsalis vorgestellte - Solist ist der Pianist Dan Nimmer. Der schlägt so munter und unbekümmert in die Tasten wie das für einen historischen Jazz-Stil nur möglich sein kann. Seine rhythmische Basis verbleibt im Rag, auch wenn hier improvisiert wird, was es beim klassischen Ragtime so nicht gab. Dan Nimmer präsentiert diese Musik mit viel Fingerfertigkeit und Empathie, als wenn er diesen Stil gerade eben „entdeckt“ hätte. Dennoch, diese einfach strukturierte rhythmische Spielweise mit den kantigen Verzierungen und Schnörkeln wirken zu Beginn lustig auffrischend, um dann etwas monoton zu werden. Um dem vorzubeugen, werden seine Figuren im Ausdruck expressiver, verlassen jedoch nicht die rhythmische Basis des Rag.

Der 1. Trompeter erläutert den nächsten Titel, der an einen bekannten Standard erinnert. A Nightingale … Die Einführung ins Thema obliegt dem Bass mit einer Ostinato-Figur.

Flöten und Klarinetten der Saxofonisten verbreiten mit ihren Vogelstimmen die geeignete Atmosphäre in diesem Ambiente. Dann wird es ernst. Die Big Band und das solistisch zu hörende Alt von Sherman Irby erzeugen einen kompakten klassischen Sound. Der Geist von Mingus’ Musik und weiterer Klassiker stecken in der Musik, vertieft durch das Altsax mit seinen wunderbaren Melodielinien und Schleifen. Dort, wo das Sax aufhört, macht die Trompete mit viel Gefühl weiter. Das schönste Lied der Nachtigall darf jedoch die Klarinette von Victor Goines mit ihrer warmen Klangfarbe singen, bevor sie durch den jähen Einsatz der Bläser gestoppt wird. Wer die Nachtigall stört … Damit sind wir wieder im Reich der Vogelstimmen, bevor das Stück wieder mit einfachen Bassfiguren, rhythmisch zu swingen anfängt.

Auch hier ist der Traditionsbezug unüberhörbar. Die Posaunisten Vincent Gardener, Chris Crenshaw und Eillot Mason wechseln sich ab mit ihren zupackenden Soli. Dann geht es reihum und Schlag auf Schlag. Alle Mitglieder der Band zeigen in ihren Soli worum es geht: kurze, aber auf das Wesentliche des Themas konzentrierte Improvisationen voller Kraft und Ausdruck. Als wäre es damit noch nicht genug, gibt Wynton Marsalis in seinem ergreifenden emotionalen Solo sein Letztes. Das betreibt er solange, bis ihm die Luft ausgeht, das Herz nicht mehr recht will. Ein konkretes, lebendiges Beispiel für die Authentizität von (Jazz)Musik, seiner Musik, die Musik des Orchesters.

Wynton Marsalis spricht bei der Vorstellung des nächsten Titels von der Musik Spaniens und erwähnt auch den legendären Gitarristen Paco de Lucia. Tja, das kommt einem dann spanisch vor. Tonfolgen, Sequenzen erinnern in Teilen an die iberische Musiktradition, besonders die der Gitarre. Ein Solo des Alt- und später des Bariton-Saxofons stellen den Bezug zu jazzigen Harmonien her. Vom Klangcharakter ist das Stück eine etwas schwermütige Ballade, die nicht die Qualität der anderen Stücken erreicht.

Wynton Marsalis
Wynton Marsalis, Foto: ©Stephan Rabold

Es geht weiter, diesmal ohne Ansage. Ein markanter Rhythmus, schneller im Tempo als alle seine Vorgänger, gibt dem Tenor-Sax von Walter Blanding die Chance zum Big Band Sound was beizutragen, und zwar vollen Ton und Virtuosität. Die Rhythm Section legt sich physikalisch mehr ins Zeug, bleibt aber unauffällig. Der jetzt aufschwellende Musik bleibt unaufgeregt, trotz des treibenden Tempos betont lässig. Kein Ton ist zu viel, kein Laut zu wenig. Nun gut, beim Solo des Baritons darf es auch etwas expressiver zugehen. Dabei verbleibt das Sax in der rhythmisch- harmonischen Struktur des Titels. Abgerundet – durch ein Posaunen-Solo – und gegensätzlich abgefangen – durch die schneidend scharfen Bläsersätze – verdichten sich diese Elemente zum überzeugenden Gruppen-Sound. Ein Solo des Drummers Obed Calvaire darf nicht fehlen. Das bleibt merkwürdig verhalten, eher zaghaft vorgetragen und ist keine Demonstration von Power Play Drumming in der Tradition klassischer Big Bands. Warum auch nicht? Der Sound des ganzen Orchesters verdichtet sich immer stärker, treibt Melodien, Harmonien und letztlich auch die Solisten vor sich her. Das Publikum ist schon lange erledigt.

Zugabe
The Sound of the Train. Lustig, ein nettes Stück, um Kinder an den Jazz heranzuführen. Dieser Big Train macht Erwachsene froh und Kinder ebenso …
Mit Voice, der menschlichen Stimme legt dieser Song los. Der sehr einfache, zweitaktige Rhythmus – babam, babam – führt dazu, dass alle – Musiker wie Publikum – mitmachen können. Mit den Stimmen, den Füßen oder den Instrumenten. Über dieses Babam lassen die Solisten einfach ihren Jazz erklingen. Ein autobiografisch verbürgter Song aus der Kindheit von Wynton Marsalis, der von den realen Geräusches des Zugs handelt. Macht der Big Train UuuHHH oder Babam Babam bei der Fahrt von West nach Ost? Und - so sei anzumerken -, als Weltmusik auch den Norden und Süden bereist. Jazz all over the World in der Berliner Philharmonie.

Jazz at Lincoln Center Orchestra:
Wynton Marsalis - Trompete, Leitung
Ryan Kisor - Trompete
Kenny Rampton - Trompete
Marcus Printup - Trompete
Vincent Gardner - Posaune
Chris Crenshaw - Posaune
Elliot Mason - Posaune
Sherman Irby - Alt- und Sopransaxofon, Flöte, Klarinette
Alexa Tarantino - Alt- und Sopransaxofon, Flöte, Klarinette
Victor Goines - Tenor- und Sopransaxofon, Klarinette, Bassklarinette
Walter Blanding - Tenor- und Sopransaxofon, Klarinette
Paul Nedzela - Bariton- und Sopransaxofon, Bassklarinette
Dan Nimmer - Klavier
Carlos Henriquez - Bass
Obed Calvaire - Schlagzeug

P.S. Die Geburtstags-Überraschung. Plötzlich taucht inmitten des stürmenden Applaus ein Horn auf der Bühne auf und bläst die ersten Töne von … Genau, denn jetzt fallen noch weiter Hörner ein. Das sind Spieler – wohl aus den Reihen der Berliner Philharmoniker, die sich für diese Konzert eingesetzt hatten –, die sich im Publikum versteckt hatten und die jetzt intonieren:
Happy Birthday Dear Wynton! Jazz-fun.de schließt sich an.

Wynton Marsalis
Wynton Marsalis, Foto: ©Stephan Rabold

Text: Cosmo Scharmer
Foto: Stephan Rabold

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