Durch viele gemeinsame Konzerte in den letzten Jahren sind Meyer, Meyer und Baumgärtner zu einer Einheit, geradezu einem musikalischen Organismus verwachsen. Zielsicher und pointiert wählen sie aus ihrer großen Palette an Ausdrucksmöglichkeiten zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Klangfarben. Kooperationen mit Jan Bang, Tony Malaby, John Hollenbeck, Jim Black oder Theo Bleckmann haben die drei Persönlichkeiten zusätzlich reifen lassen. Das alles ist auf Stroy zu hören. „Beim Schreiben der Stücke für das Album hatte ich schon kommende Konzerte im Kopf“, erklärt Bernhard Meyer, „besonders die Energie, Spontaneität und Offenheit, die auf der Bühne entsteht.“ Ruhigere Momente leben von Nuancen und feinen Verästelungen, die sich mal kontinuierlich verdichten und zuspitzen, mal von unvermittelt aufleuchtenden Expressionen durchsetzt sind. Die Dynamik ist groß, kommt aber selten überfallartig, schwillt vielmehr langsam an und wieder ab. Die einzelnen Stücke und das gesamte Album erinnern an einen mäandernden Fluss, mal kontemplativ, mal von Stromschnellen durchsetzt. Dabei scheint sich die Band im Lauf der Platte stromaufwärts Richtung Quelle zu bewegen.
Statt nach spektakulärer Rasanz zu streben, kreiert das Melt Trio mal versponnene, mal beinahe ekstatische Stimmungen. Spannungsbögen entstehen, indem sich die Musik innerhalb einer Komposition stets vorwärts bewegt, statt sich wie sonst oft üblich in Kreisen zu drehen. Improvisationen und Soli sind keine nacheinander abgefeuerten Einzelaktionen. Vielmehr kommen und gehen sie fast unbemerkt, erwachsen unvermittelt aus Klang und Kontext, dienen als substantielle Brücken, um die musikalische Geschichte weiter zu erzählen. Mit dem Ziel vor Augen, woanders anzukommen und nicht wieder am Ausgangspunkt zu landen. Die Poesie, die dieser Musik inne wohnt, findet im Titel des Albums ihre Entsprechung. Schon der vorherigen Platte gab die Band einen suggestiven Namen: Hymnolia. Nun erinnert das spielerische Kunstwort Stroy nicht zufällig an „Story“. Darüber hinaus – und wichtiger noch – assoziiert es für Melt das Gegenteil von „destroy“. Sounds und Atmosphären aufzubauen, statt Strukturen brachial einzureißen, ist ihre Motivation.
Das ausgeprägte Klangbewusstsein der drei Musiker hat Geschichte. In den vergangenen Jahren haben sie, zumal in anderen Konstellationen, ihre persönlichen musikalischen Handschriften immer feiner ausgearbeitet. Bernhard Meyer zupft als einer der wenigen seines Fachs einen Halbresonanz-Bass, spielt darauf zuweilen eine Doppelrolle als grundierender Bassist und Rhythmusgitarrist und bereitet den Boden für weitläufige Improvisationen. Sein Gravitationsfeld hält das Geschehen jederzeit zusammen. Peter Meyer transferiert zuweilen die Ästhetik akustischer Pickings auf die E-Gitarre, kreiert individuelle harmonische Wendungen, changiert zwischen kluger Komplexität und emotionaler Tiefe. Beide Meyers wissen pointiert mit Effektgeräten und Loopern umzugehen, vereinen elegant das warme Timbre von Holz und gezielt eingesetzte Digitaltechnik. Moritz Baumgärtner hat als Drummer einen singulären, unmittelbar identifizierbaren Ausdruck entwickelt. Sein Spiel zeichnet sich durch klangliche Qualität, ungewöhnliche Materialeinsätze (diverses Blech, Metall, Megaphon u.v.m.) und Energieschübe aus, die mit der verschwenderischen Kraft einer Vulkaneruption losbrechen können. Von je her pendelt Baumgärtner zwischen den Stilen, wirkt als souveränes Rückgrat unter anderem bei Lisbeth Quartett, Johanna Borchert und der Elektro-Punkband Frittenbude, von 2010 bis 2014 auch beim verrückten Rockzirkus Bonaparte. „Früher wurden wir vor allem von Dingen inspiriert, die wir gehört haben“, fasst Baumgärtner die Entwicklung aus seiner Sicht zusammen, „heute schöpfen wir aus unseren eigenen Erfahrungen. Uns ist noch klarer, in welchem Moment wir bestimmte Gesten und Sounds einsetzen. Man schält immer mehr ab und sieht den Kern.“
Die Meyer-Brüder spielen seit ihren Teenagerjahren zusammen, lange als Gitarrentrio mit wechselndem Schlagzeuger, „weil es in unserem Dorf einfach keine Saxophonisten oder Pianisten gab, mit denen wir hätten arbeiten können.“ Das ist jetzt eineinhalb Dekaden her. 2010, kurz nach ihrem Studium am Jazz Institut Berlin (bei John Hollenbeck respektive Kurt Rosenwinkel), begann der gemeinsame Weg der Meyers mit Baumgärtner (der ebenfalls bei Hollenbeck studierte). „Damals hat Moritz ganz anders gespielt als ich“, erinnert sich Peter Meyer, „er war viel in der freien Szene aktiv und dadurch vor allem hochenergetisch, während ich zu diesem Zeitpunkt eher von vollen, warmen Sounds begeistert war.“ Auch gegeneinander geschlagene Steine erzeugen Funken, die ein Feuer entfachen können. Heute reibt das Trio dafür weicheres und etwas härteres Holz aneinander. Die markanten, genreübergreifenden Kompositionen der Meyers sind zwar ausgefeilt, lassen aber absichtsvoll Raum für zusätzliche Ideen, die im Zusammenspiel entwickelt werden. Viele Texturen entstehen intuitiv, müssen weder besprochen, noch aufgeschrieben werden. Und Drummer Baumgärtner steuert, obwohl er selbst als einziger der drei keine Stücke schreibt, enorm viele Ideen bei. Oft beflügelt er sich und die Meyers zu noch mutigeren Ausflügen. „Wir haben unsere Zutaten klarer sortiert und können daher beim Spielen mehr Risiken eingehen“, beschreibt Baumgärtner die Balance zwischen ausgeklügelten und freien Passagen, „die neuen Aufnahmen sind zwar subtiler, haben aber trotzdem viel mehr Drive.“
Den Schlusspunkt auf Stroy setzt das einzige Stück mit deutschsprachigen Namen, nämlich Heiliger Dankgesang. Es basiert auf einem Streichquartett von Beethoven (op. 15, 3. Satz), die Idee dazu stammt von Peter Meyer. Dessen vergleichsweise üppig schwellenden Gitarrensounds, einige gestrichene Becken und Glocken suggerieren indes weit weniger klassische Einflüsse als vielmehr eine gewisse Verbindung zu den Epen der isländischen Pink Floyd-Nachfahren Sigur Ròs.
Es ist sicher nicht vermessen zu behaupten, dass derzeit keine deutsche Band so klingt wie das Melt Trio. Die Souveränität, mit der Meyer, Meyer und Baumgärtner zwischen klaren Konturen und sich öffnenden Formen, wunderbarem Melodie- und Klangreichtum, interessanten Harmonien und rhythmischen Finessen changieren, setzt einen Wegweiser in die europäische Musiklandschaft.
- Crescending
- Cassandra Complex
- Congo Square
- Snow Down
- Hybris I
- Hybris II
- Stroy
- Mimikry
- Bica
- Nexus
- Heiliger Dankgesang
Einen Kommentar schreiben