John Kunkeler vom Jazzclub Schlot im Gespräch mit Cosmo Scharmer von jazz-fun.de

Kunstfabrik Schlot
Kunstfabrik Schlot, Foto: Kunstfabrik Schlot

Jazz in Berlin – Portraits der Clubs

Berlin hat den Ruf „Die Europäische Jazzmetropole“ zu sein. Das meint das Berliner Jazzpublikum zwar ebenfalls, aber es sind überwiegend die Musikermachenden selbst, die der Stadt diesen Titel verleihen. Das ist begründet in der Vielzahl von Jazzern, die hier leben und die Jazzmusik der Stadt prägen. Das betrifft nationale wie internationale Musiker und auch immer mehr Musikerinnen aus aller Welt, die hier ihre Residenz gefunden haben. So zahlreich und individuell wie die Personen sind auch die musikalischen Stile, die hier präsentiert werden. Salopp gesagt: Jede Stilrichtung im Jazz und auch in angrenzenden Genres sind in Berlin zu hören. Damit sind wir bei den Clubs. Denn sie sind Medium, Forum, Ort und Ambiente für die Jazzmusik. Zwar mitgenommen durch die Pandemie, haben sie sich behauptet und bieten wie eh und je Live-Konzerte an. Um den Hauptstadt-Besuchern von nah wie den Berlin-Touristinnen von fern Orientierungshilfen zu geben, stellt jazz-fun.de einige der renommiertesten Clubs vor. Das wird in der Form von Portraits und/oder Interviews mit den Clubbetreibern geschehen.

Für alle Clubs gilt: Hingehen und sich selbst einen Eindruck verschaffen, ob das mit der europäischen Jazzmetropole zutreffend ist. Stilistisch haben die einzelnen Clubs zwar unterschiedliche programmatische Schwerpunkte, aber generell kann gesagt werden, dass eine große Bandbreite an traditionellen wie aktuellen Jazzstilen in den Clubs erlebt werden kann. Seid Willkommen!

Wir starten die Serie mit einem Interview von John Kunkeler aus der Kunstfabrik Schlot in Berlin-Mitte.

jazz-fun.de:
Die Corona-Pandemie ist zwar noch nicht überstanden, aber gibt es schon ein wenig Normalität? Wie ist die spezifische Situation im Kunstfabrik Schlot?

John Kunkeler:
Seit einigen Wochen gibt es das sogenannte Optionsmodell 2G. Das heißt, nur Geimpfte oder Genesene haben Zugang und den Corona-Schnell-Test wird es dann nicht mehr geben. Wir haben für Oktober und November beschlossen, das einvernehmlich mit den gebuchten Bands abzusprechen. Es gibt einige Musiker, die noch nicht geimpft sind, dabei skeptisch oder unwillig. Mit denen bespreche ich, nach welche Regelung wir es machen wollen - 2 oder 3G. Das machen wir solange, bis dieses Diktat seitens der Behörde besteht. Es kann sein, dass in wenigen Wochen, wenn die vierte Welle nicht so schlimm wird wie angekündigt, dieses Diktat von 3 oder 2G wieder aufgehoben wird - ähnlich wie in Dänemark oder in den Niederlanden.

jazz-fun.de:
Was wird sich in Zukunft – nach dem realen Ende der Pandemie - ändern?

John Kunkeler:
Da sind wir selbst gespannt. Bei unserem Publikum, das auch während der Pandemie kam, konnten wir durch eigene Dokumentation feststellen, dass über 80 Prozent geimpft waren. Und ja, wir hoffen natürlich, dass es wieder den normalen Alltag geben wird. Es gibt Konzerte, bei denen die auftretenden Musiker einen großen eigenen Anhang mitbringen. Aber der Normalbetrieb, bei dem Gäste ohne Kenntnisse der Musik ins Konzert kommen wollen und sich nur über das Internet informieren, dieser Alltagsbetrieb muss wieder stärker werden. Wir hier in Berlin-Mitte haben sehr stark von Touristen profitiert. Die sind anderthalb Jahre weggeblieben, jetzt kommen sie zögerlich wieder.

jazz-fun.de:
Zur Geschichte des Clubs. Wie fing es damals an?
Was hat sich in der Zwischenzeit geändert?

John Kunkeler:
Mitte der 90er Jahre war ich in einer Ehekrise. Ein Freund von mir, auch ein Marathonläufer, fragte mich, ob es vorstellbar wäre, mit ihm zusammen einen Jazz-Club zu übernehmen. In solchen Lebenskrisen wie einer Ehescheidung ist man eher bereit, starke Einschnitte im Leben zu machen. So habe ich den Schuldienst vollends quittiert und habe mit ihm die Kunstfabrik Schlot übernommen, der damals im Prenzlauer Berg in der Kastanienallee beheimatet war. Mein Companion heißt Stefan Berker und ist Jazz Pianist. Es war seine Idee. Seine Frage nach dem Kunstfabrik habe ich bejaht. Ich bin eher im operativen Geschäft tätig, er ist das Musical Brain. Und gelegentlich spielt er selbst hier mit seiner Band oder in einer größeren Band als Pianist.

jazz-fun.de:
Ihr seid damals so richtig voll ins Risiko gegangen!

John Kunkeler:
Das kann man so sagen. Bedauert habe ich es bislang nicht. Manchmal hängt die Schule mir noch so ein bisschen nach, aber man kann ja auch in dieser Aufgabe im Schlot weiterhin den alten Lehrer spielen. Das merkt man an unserer Programmgestaltung und auch am Kontakt zu den jungen Leuten oder Bands, die bei uns auftreten.

jazz-fun.de:
Es gibt sicher spannende Episoden zu erzählen. Welche Geschichte, welches Ereignis, welches Konzert haben dich stark beindruckt?

John Kunkeler:
Man muss sich zu Beginn erst mal an die neue Tätigkeit gewöhnen bzw. den Respekt der Musiker erarbeiten. Die Musiker sind eigenwillige Persönlichkeiten, die den Club-Betreiber nicht kennen und dann als sogenannte „Szenen-Onkels“ einem erklären wollen, wie so was zu machen ist. Und natürlich gibt es auch viele Neider, die alles besser wissen und alles besser können. Wir haben das Kunstfabrik-Projekt mit hohem Risiko, viel Engagement und eigener Manpower durchgezogen. Die einschneidendste Erinnerung ist, dass wir 1996 nach der Übernahme des Schlots, feststellen mussten: Es existierte überhaupt keine Konzession für den Laden. Das waren noch die Zeiten des Wilden Ostens. Die Behörden wussten nicht Bescheid, die ganze Gegend war ein Sanierungsgebiet und das alte Schlot befand sich auf einem Hinterhof. Als dann die umliegenden Häuser mit Luxussanierung bewohnbar gemacht werden sollten, dann sagten uns die Behörden: Ihr könnt da nicht bleiben. Das ist eine Belästigung für die Anwohner; es ist nicht möglich, dauerhaft einen Jazz-Laden zu führen. Die Behörden haben uns noch eine Weile geduldet. Aber bei der ersten Beschwerde der Anwohner, müssten sie uns den Laden sofort dichtmachen. Ich habe damals sogenannte weiße Mäuse verteilt. Wenn die Leute nach Hause über die Höfe liefen, so hatten sie eine weiße Maus von Haribo im Mund. Mit vollem Mund redet man nicht.

Mithilfe der Senatsverwaltung für kulturelle Angelegenheiten haben wir dann die neue Adresse in den Edisonhöfen vermittelt bekommen. Hier in diesen Kellerräumen einer alten Fabrik für Glüh-Lampen war nichts. Mein Kompagnon hat eigene Mittel gehabt. Mit dem damaligen Vermieter haben wir uns über die zu mietende Fläche geeinigt. Alles, außer der Lüftungsanlage, der Elektrik und der Sanitäranlage haben wir selber gemacht. Also gefliest, Böden verlegt, gebaut und so weiter. Alles in Eigenregie mit unseren Fähigkeiten als Handwerker.

Setzen wir uns zeitlich zurück: Ende der 90er, Anfang der Nuller-Jahre hier in Berlin-Mitte, in die Chaussee- und Invalidenstraße. Diese Gegend war „The Middle of Nowhere“. Berlin hörte an der Torstraße auf und ging irgendwo in Wedding weiter. Erst als Hauptbahnhof fertiggestellt wurde, wurden die Baulücken sukzessive alle gefüllt, Hotels gebaut. Es zogen sehr viele Menschen hierher. Ich selbst bin hier in diese Straße gezogen. Meine damalige Nachbarschaft bestand aus anderen Leute, als heute. Jetzt lebt hier ein Bildungsbürgertum, das teilweise Wohnungen kauft, um diese als Geldanlage zu vermieten. Das ist Gentrifizierung. Wir mussten damals ein lokales Klientel anwerben, da die Touristen noch nicht da waren.

Maria Baptist in Kustfabrik Schlot
Maria Baptist in Kustfabrik Schlot, Foto: Anna Stark

jazz-fun.de:
Das lokale Publikum, das ins Schlot kommt, um Jazz zu hören, das war das primäre Ziel?

John Kunkeler:
Ja. Dass die Gefolgschaft aus dem alten Schlot nachzieht und hier Konzerte besucht, das konnte man sich kneifen. Die Leute, die früher regelmäßig kamen, die wohnten in der Nähe, direkt um die Ecke. Wenn sie jetzt dafür zwei Kilometer laufen müssen, dann tun sie das nicht.

jazz-fun.de:
Was ist das Besondere am Schlot?

John Kunkeler:
Durch den Umzug in die viel größeren Räumlichkeiten gab es die Möglichkeit, die Bühne erheblich größer zu machen als im alten Schlot. Dazu half eine Anfrage von Rolf von Nordenskjöld, dem Leader der Bigband. Uns kam die Idee, die Bühne zu vergrößern. Durch verschiedene Umbauten haben wir eine große Bühne erwirkt, wo eine Bigband spielend untergebracht werden kann. Wir sind seit 25 Jahren zu einer Art Asylheim für Big Bands geworden. Und das ist sicherlich eine Sache, die uns von den anderen Clubs unterscheidet.

jazz-fun.de:
Also die große Bühne ermöglicht das Spielen von Big Bands. Mir ist bekannt, dass die Maria Baptist Big Band seit fünf Jahren regelmäßig im Schlot spielt.

John Kunkeler:
Korrekt, aber davor gab es auch andere Big Bands, die ein Dauerrecht zum Spielen, quasi ein Booking bekamen: ein ganzes Jahr mindestens, manchmal sogar mehr als zwei Jahre. Gelegentlich fallen solche Big Bands wieder auseinander. Die Maria Baptist ist sehr agil und hält ihre Band gut zusammen und hat für jede Position eine doppelte Besetzung, so dass die Qualität immer stimmt.

Wir schätzen, dass es noch 16 oder 17 Big Bands in Berlin gibt Davon spielen - bis auf zwei - alle regelmäßig im Schlot. Das sich wiederholende monatliche Bigband-Konzert ist dasjenige von Maria Baptist. Und ja, die laufen hier immer zu Höchstform auf, weil sie regelmäßig spielen können. Das ist das A und O. Wenn eine Band häufiger Absagen kriegt, dann werden die nie richtig gut, dann bleibt das immer so eine Art Probe.

Kunstfabrik Schlot
Kunstfabrik Schlot

jazz-fun.de:
Hat sich etwas in Bezug auf die inhaltliche Musik geändert?

John Kunkeler:
Jazz ist nicht das, was man spielt, sondern wie man spielt. Es gibt eine enorme Palette von Stilrichtungen und bevorzugten Verbindungen zwischen den stilistischen Elementen. Wir machen kein Wunschkonzert fürs Publikum. Die anfragenden Bands kriegen eine Chance. Eine Saxofonisten sagte, sie spiele jetzt Latin-Jazz, weil das bei den Leuten besser ankommt. Ich entgegnete: Du sollest spielen, was Du gut findest. Die Musik würde sich gar nicht weiterentwickeln, wenn die Musiker nur nach irgendwelchen Pfeifen tanzen würden. Hier und da gibt es Musik, die schwer zugänglich ist, so wie Free Jazz, den wir in sehr klein dosierte Mengen anbieten. Auch wenn bei uns das Motto Kultur vor Kommerz gilt, so wir haben kaufmännische Mindestzwänge. Es kann nicht sein, dass eine Band nur vor 10 Leuten spielt. Dafür sind letztendlich die Kosten zu hoch, aber für solche Gruppen gibt es gelegentlich irgendeinen Platz bei uns.

Auf der anderen Seite der musikalischen Palette befindet sich der Swing. Das sind alte Herren, die ein-, zweimal im Jahr kommen. Das läuft in Kooperation mit dem Verein „Jazz für alle“. Die pflegen diesen Spielstil, die kommen dann auch. Ich denke, die ganze Szene hat sich stilistisch stark segmentiert, so dass jede Art von Musik ein gewisses Publikum anspricht. Ist es Big Band Jazz oder Dixieland, so ist der Altersdurchschnitt höher. Es gibt nur wenige Ausnahmen in diesen Bands, in denen junge Leute mitspielen. Das mag sich irgendwann wieder ändern, aber im Moment noch nicht. Bei Avantgarde oder Free Jazz sind das „Freaks“ aus den 80er und 90er Jahre. Diese Musiker haben ihr eigenes Publikum.

jazz-fun.de:
Da würde ich gern nachfragen. Also vom Schlot gibt es keine Präferenzen für einen bestimmten Stil. Die Musiker, die für Auftritte anfragen, können grundsätzlich spielen. Und ihr sagt nicht: Nee, das geht jetzt nicht, ich habe schon genug Fusion- und Jazz-Rock-Konzerte im aktuellen Programm. Die Frage zielt auf Programmgestaltung und deren Ausgewogenheit.

John Kunkeler:
Auf Ausgewogenheit ist zu achten. Auch wenn ich eine bestimmte Musik nicht mag, dann können diese Musiker trotzdem ihren Sound auf die Bühne bringen. Auch Blues ist mal gut, aber nicht jede Woche. Die stilistische Mischung muss sich auch nach den Anfragen richten. Wir haben Anfragen für Konzerte aus der Berliner Szene, aber wir haben auch Anfragen von tourenden Bands. Diese können nur in einem bestimmten Zeitraum. Dann kann es vorkommen, dass zweimal hintereinander Fusion im Programm steht. Dabei gilt: Die eigene musikalische Handschrift der Musiker ist auch bei gleichem Stil in ihren Darbietungen sehr unterschiedlich. Das ist wie bei einem Gespräch. Im Konzert ist stets ein anderes Fluidum zu erleben, das vom Publikum gewürdigt wird oder eben nicht.

jazz-fun.de:
Die Bands kommen aus Berlin, auch internationale Gruppen spielen hier. Es gibt sicherlich Beziehungen zu Ländern, zu denen man spezielle Kontakte hat. Wie sieht es damit aus?

John Kunkeler:
Das begann vor 20 Jahren mit dem Kulturinstitut von Tschechien in Berlin, dessen Institutsleiter ein Jazz-Fan war. Er kam privat als Gast und sprach uns an, ob wir nicht Konzerte von tschechischen Musikern veranstalten wollten. Ich sagte: Ja, gerne. Er brachte dann die besten Bands aus Prag nach Berlin ins Schlot. Die tschechische Botschaft bezahlte Reisekosten, Unterkunft und Gage. Und für uns war der Deal insofern gut, dass wir das eingenommene Eintrittsgeld für den Club behalten durften. Irgendwann wurde er abberufen und ging einer anderen Aufgabe nach. Die Idee blieb bei uns. Wir haben überall bei allen möglichen Ländern angefragt. Die Belgier und besonders die Holländer sind nicht dabei, weil die dafür kein Geld ausgeben wollen. Tja, die Holländer sind geizig.

jazz-fun.de:
Du als Holländer darfst das vielleicht sagen.

John Kunkeler:
Das erste, was sie fragen ist: Was kostet das ? Das hat mit Kulturverständnis nicht allzu viel zu tun. Das steht und fällt mit den Kulturbeauftragten, die die jeweiligen Botschaften in ihren Reihen haben. Wir fingen irgendwann an, selbst Kontakte zu knüpfen. Dafür haben wir im Schlot einen eigenen Beauftragten. Das ist Andrea Marcelli, ein italienischer Schlagzeuger aus der Berliner Szene, der in vielen Projekten mitspielt. Er pflegt die Kontakte, sucht die Band aus, auch nach stilistischen Aspekten. Wir haben diesbezüglich seit 8 Jahren das sogenannte „My Unique Festival“, das europäischen Nationen internationale Kontakte verschaffen soll. Die jeweiligen Botschaften der Herkunftsländer übernehmen die Gage, die Reisekosten und die gesponserten Gruppen treten dann hier auf. Durch Corona ist das Ganze zum Erliegen gekommen, aber in diesem Jahr begann es etwas ausgedünnter. Vor kurzem hat das spanische José Carra Trio bei uns gastiert. Das war eines der beeindruckendsten Konzerte, die ich je im Schlot gehört habe. Verwunderlich war das Folgende: Da waren nur 35 oder 40 Leute da. Das Konzert hätte 500 Leute verdient, die alle beeindruckt nach Hause gegangen wären. Das ist nicht nur im Schlot so, sondern betrifft auch die anderen Clubs. Ein bisschen zynisch gesagt: Je besser die Band, umso weniger Gäste kommen. Gestern spielte eine andere Band. Alles Amateure, die spielen einmal im Jahr - ihr Highlight. Die bringen alle mit: ihre Arbeitskollegen, Freunde, Bekannte. Da war der Laden gestern nach der 2-G-Regel gerammelt voll.

jazz-fun.de:
Was hat sich auf Seiten der Künstler, der Musikerinnen verändert?

John Kunkeler:
Die Szene hat sich gewandelt in den letzten 25 Jahren. Als wir 1996 das Schlot übernahmen, hatten wir das berühmte Bebop Meeting. Das war eine Jam-Session jeweils an Montagen, zu einer Zeit, als es noch nicht viele einheimische Berliner Jazzmusiker gab. Die kamen dann im Laufe der Zeit. Es war am Anfang sinnvoll, eine Session zu machen, bei der die Musiker sich kennenlernen sollten. Wer spielt mit wem? Diese Session-Musiker formierten sich letztendlich zu Bands. Wir haben die Sessions nach dem Umzug ins neue Schlot abgeschafft. Diese wurden nur noch besucht von Gitarristen und Sängerinnen mit begrenzten Fähigkeiten. Da wurde zwischen den Stücken fünf bis zehn Minuten über die Tonarten verhandelt. Und das war Langeweile pur.

Mittlerweile gibt es viele zusammengestellte Ensembles, die nicht nur Stücke nachspielen, sondern auch komponieren. Auch der weibliche Anteil hat zugenommen. Wir vermuten, dass es ungefähr 1000 Musizierende sind, die hier bei uns in irgendwelchen Formationen auftreten, sei es in einer Bigband, sei es in der eigenen Formation, sei es als „Aushilfe“ in einem anderen Ensemble.

Unsere größte Öffnung, die wir im Schlot - auch im Vergleich mit den anderen Clubs - gemacht haben, ist: Wir suchen stets den Kontakt zu den Musikschulen. Bei der Musikschule City West betreiben wir das seit zirka 15 Jahren. Das machen wir auch bei normalen Schulen, die Musik-Abteilungen haben. Dabei hilft mir mein Instinkt als Lehrer. Wenn dann die United Big Band Berlin - das sind die begabtesten Kinder aus allen Musikschulen Berlins, die in einem Auswahlverfahren erlesen und professionell betreut wurden -, in einer Band zusammenkommen, dann ist das sehr schön. Die treten einmal im Jahr hier auf, an 2 Tagen am Wochenende. Unsere Kapazität beträgt 150 Plätze, die an beiden Abenden voll ausgebucht sind. Für diesen Auftritt üben sie das ganze Jahr, ihr Highlight. Da sind viele junge Leute dabei, auch viele Mädchen. Einige von diesen Jugendlichen haben ihren Weg gemacht, an der Musikakademie, an der TU Berlin. Wir haben einige, die als Kinder hier begonnen haben, und jetzt arrivierte, fast professionelle Jazzer sind. Und mit den Frauen verhält es sich genauso: wir haben Klavierspielerinnen, wir haben Bassistinnen, Schlagzeugerinnen, eine Trompeterin. Alles ist im Schlot vertreten, geschlechtsunabhängig und auch unabhängig des Alters.

Maria Baptist in Kustfabrik Schlot
Maria Baptist in Kustfabrik Schlot, Foto: Anna Stark

jazz-fun.de:
Ökonomische Situation. Hat sich etwas bei der wirtschaftlichen Lage des Clubs geändert?

John Kunkeler:
Unser Motto ist: Kultur vor Kommerz. Wir machen nicht unbedingt das, was gut läuft, sondern wir bieten das an, was nach unserem Dafürhalten gut ist und eine Berechtigung hat, zur Berliner Szene zu gehören. Die ganze Palette von dem, was Berlin musikalisch alles zu bieten hat, soll hier eine Möglichkeit bekommen. Wir wissen schon, welche Bigband gut ist, welche noch besser ist, und welche Big Band exzellent ist, das alles wissen wir. Das sollte nicht maßgeblich dafür sein zu sagen: Ihr könnt hier nicht spielen, weil ihr ein gewisses Niveau nicht erreicht. Das unterscheidet uns womöglich ein bisschen von den anderen Jazzclubs. Früher gab es eine leicht elitäre Art der Musiker mit der Konsequenz, dass sie geringschätzig über die Fähigkeiten der Kollegen sprachen. Das wollen wir hier nicht sehen oder hören. Wir behandeln alle mehr oder weniger gleich.

Ich bin vielleicht nicht zu jedem gleich nett, aber gleich fair. Das ist eine andere Philosophie als die mancher Jazz-Läden, die nur Stars importieren und dann mit diesen Dingen kokettieren. Ich selbst bin seit Jahrzehnten mit dem Kontrabassisten David Freesen befreundet, der laut Ranking zu den 100 bedeutendsten Jazzern aller Zeiten gehört. Der kommt hierher und spielt zu den gleichen Konditionen wie alle anderen Musiker auch, weil wir befreundet sind. Ein Musterbeispiel: David Freesen spielte hier vor nur 30 oder 40 Gästen. Solch ein Künstler könnte in der Philharmonie mit Hunderten oder Tausenden von Gästen auftreten und alle würden das schön empfinden. Solche Begegnungen sind unser Antrieb. Wenn es keinen Spaß machte, würden wir es nicht tun. Aber es muss auf lange Sicht kostendeckend funktionieren. Die kaufmännischen Mindestzwänge müssen erfüllt sein. Uns geht es nicht um das große Geschäft. Dann müssten wir jeden Abend irgendwelche Schmuh- oder Karaoke-Shows machen. Sachen, die uns den Laden füllten, aber keinen Spaß machen würden. Das wäre auch kein pädagogischer, kein kultureller Beitrag zur Musikszene.

Jazz ist der einzige Musik-Stil, der sich mit der Zeit ändert, der auch in den jeweiligen Ländern seine eigenen Noten setzt. Wenn Italiener spielen, klingt deren Jazz anders als wenn Spanier, Niederländer, Polen oder Schweden hier gastieren. Das macht ja den Reiz aus. Und wenn das in einer so kosmopolitischen Stadt wie Berlin passiert …. Wie diese Dinge, diese (länder)spezifischen Aspekte musikalisch umgesetzt werden können, das interessiert uns am meisten.

Es gab auch Zeiten beim Big Band Jazz, die langweilig waren, in denen die ewig gleichen Stücke immer wieder gespielt wurden. Das hat sich auch sehr positiv entwickelt. Die Maria Baptist komponiert selbst für ihre Big Band. Das sind atemberaubend schöne Sachen, die sie spielen. Dagegen spielen Amateur-Bands Standards, die jeder kennt. Das ist auch okay, aber es hat nicht das Niveau einer echten Profi-Band. Auch die Profis machen es nicht nur wegen des Geldes. Wenn hier 150 Leute zum Konzert kommen, und wenn man es an 20 Musiker verteilt, dann ist das sehr wenig. Die machen das alles wegen der Kunst.

jazz-fun.de:
Das ist ein schöner Schluss. John, vielen Dank für das höchst informative Gespräch.

John Kunkeler:
Bitte, gern geschehen.

Kunstfabrik Schlot in Berlin

Text: Cosmo Scharmer
Foto: Anna Stark, Kunstfabrik Schlot

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Kommentar von Jörg Schippa |

Schönes Interview mit John. Ich kann bestätigen, dass er fair ist und obendrein finde ich ihn sogar sehr sympatisch. John: mach weiter so.
Viele Grüße Jörg

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