Anna Margolina Band in Berlin Nikodemuskirche 25.05.2019
von Cosmo Scharmer

Das Songbook der Anna Margolina – Überraschungen, Tempation
Bei Jazzkonzerten in Kirchen betritt der Autor diese mit gemischten Gefühlen. Dies hat weniger mit religiösen oder atheistischen Gründen zu tun, sondern mit der zu erwartenden Akustik. Die kann nämlich nicht gut oder richtig schlecht sein. Andererseits ist es natürlich sehr positiv, Musikern und Interessierten Jazzkonzerte in ihrem Kiez anzubieten. So auch heute in der Nikodemuskirche in Neukölln – von den Kiezbewohner „Kreuzkölln“ genannt. Heute Abend wird die in Berlin lebende Sängerin mit weißrussischen Wurzeln ihre Interpretationen ihrer Favorite Songs, also ihr Songbook vorstellen oder deutsch formuliert: ihre Lieblingslieder.
Die 1. Überraschung vorneweg: am Piano nimmt Ruben Giannotti Platz, der nicht nur die Absicht erkennen lässt, spielen zu wollen, sondern dies auch tut. Überraschung insofern, da Ruben Giannotti dem Autor als versierter Trompeter bekannt ist, der die Musik der Berliner Big Band von Maria Baptist im Satz prägt und den Sound durch seine ausgezeichneten Soli bereichert. Jetzt sitzt dieser Trompeter am Piano und spielt wie es sich für einen Jazzpianisten im „Hauptberuf“ gehört: klassisch swingend, ohne Fehl und Tadel, mit Empathie.
Das Publikum hört gerade den bekannten Song von Irving Berlin „Cheek to cheek“. Die Drums von Andrea Marcelli und der Bass von Hendrik Nehls spielen dezent im Hintergrund und sorgen für eine bodenständige Rhythmik. Piano und Gesang gestalten das Thema aus und wechseln sich bei Stimmführung und solistischen Parts ab. So auch im nächsten Titel. Dieses Muster finden sich in den weiteren Songs, die zu den Favoriten von Anna Margolina zählen dürften. Es sind Swing-Klassiker und Songs aus der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts: Cole Porter, Duke Ellington, Gershwin und Errol Garner. Alles klassische Standards oder Evergreens, die von Generationen von Jazzern gespielt wurden, immer noch aktuell sind. So wie heute Abend. Die Herausforderung liegt darin, diesen - dem Publikum gut bekannten - Themen neue Varianten und ungewöhnliche Nuancen abzugewinnen.
Musikalisch wird dies dadurch versucht, dass sich Bass und Drums solistisch sehr zurückhalten, ihren swingenden Job machen, indem sie die rhythmische Basis exakt liefern. Besonders der Schlagzeuger schlägt vorsichtig, umsichtig und extrem leise. Der Autor meint, selten einen so leisen Schlagzeuger gehört zu haben. Entweder ist dies die Stilistik von Andrea Marcelli oder der Drummer weiß um die Gefahren des Sounds beim Nachhallen in Kirchen und richtet seine Spielweise darauf ein. Einen richtig lauten Drummer würde die Akustik des Raum auch nicht billigen.
Das die Tasten schlagende Herz dieses Konzertes kommt aus dem Piano von Ruben Giannotti, der - wie die Sängerin erläutert - alle Arrangements geschrieben hat. Der Sound bewegt sich im Spannungsverhältnis zwischen einem Piano-Trio mit gesanglicher Unterstützung und dem Quartett einer Vokalistin, die sich der Hilfe des Pianos bedient. Beides ist hier gegeben und beide Pole wechseln sich - ziemlich gerecht verteilt - in der Stimm- und Melodieführung ab.
Der Gesang von Anna Margolina schafft sich mehr durch zarte und differenzierende Intonation Gehör, als durch wuchtiges Volumen, Lautstärke oder artistische Technik. Wer ihren Interpretationen der Songs folgen will, ihre Phrasierungen entdecken möchte, der muss schon genau hinhören, um die Tonverfärbungen ihrer Stimme, die harmonisch-melodischen Schleifen und stilistischen Akzente zu entdecken. Deshalb gehören Balladen wie Duke Ellingtons „In My Solitude“ zu ihren Stärken. Einfühlsam packt sie emotionale Tiefe in diese aufwühlende Ballade. Gleichermaßen bringt Hendrik Nehls mit seinem lyrisch gefärbten Bass-Solo emotional was rüber. Die solistischen Statements des Quartetts sind kurz gehalten. Nach dieser traurig-schönen Ballade geht es im Gershwin Song „Not For Me“ zwar inhaltlich um ein verwandtes Thema, nämlich die unglücklich Verliebten, aber musikalisch betont das Stück stärker Dynamik und Kraft. Dieses Stück ist die Ausnahme von der Regel. Die anderen Titel des heutigen Konzertes verbleiben im mittleren Tempi, sind moderat und wohltemperiert.
Es folgt die 2. positive Überraschung. Der soeben erschallende Titel ist – dies erfährt der Hörer später – die musikalische Vertonung von Lyrik. Ja, aber der Text ist relativ schlecht zu verstehen. Merkwürdig. Dies kann nicht an der Intonation der Sängerin liegen, die ein perfektes muttersprachliches Deutsch spricht. Aber dieses gesungene Deutsch ist nicht immer, bisweilen gar nicht, zu verstehen. Hm? Dem Autor kommt der Verdacht, dass es sich um Jiddisch handeln könnte. In der Tat. Dies sei die Vertonung eines jiddischen Gedichtes von einer weißrussischen Namenvetterin aus Minsk, so Anna Margolina nach dem Ausklingen des Titels.
So auch die beiden folgenden Themen. Das Quartett beginnt das Stück klatschend einzuleiten, um dann auf swingender Basis einen jiddischen Text gesanglich zu vertonen. Was jetzt zu hören ist, das ist ein akzentuierter, treibender Rhythmus in bester europäischer Jazztradition. Dies klingt sehr nach der Musik - wie sie seit Mitte der Zwanziger und noch bis Anfang der Dreißiger – in Europa und besonders in Berlin gespielt und gelebt wurde: Swing, Jazz und populäre Schlager der Big Bands, wie sich die damaligen Musikapellen und Tanzorchester nannten. Inhaltlich, so die Sängerin, sei das Stück ein trauriges, aber ein traurig-fröhliches Thema. Nun, diese Informationen sind nicht nur interessant, sondern zum Verständnis der Titel sehr wichtig. Anna Margolina erläutert den familiären Hintergrund dieser Themen. Dadurch gewinnen diese Stücke eine hohe Authenzität und Glaubwürdigkeit. Diese ungehörten Lieder überraschen den Autor und sind – wenn überhaupt – sehr selten zu erleben. Weitere Erläuterungen könnten zum besseren Verständnis von Text und Musik gut beitragen. Auch wenn einzelne Passagen oder wiederkehrende Refrains aus dem Jiddischen übersetzt würden, wäre dies hilfreich. Die große Herausforderung, die Intonation des Jiddischen in eine Sprache des Jazz zu überführen, bleibt. Hier könnte im Sinn dieses Alleinstellungsmerkmal von Anna Margolina noch Einiges geschehen, meint der Autor.
Noch ein paar Standards zum Abschluss. Bei „All the Things You Are“ kann Ruben Giannotti noch mal zeigen, was für ein vorzüglicher Pianist er ist, besonders in seinen Soli. Bei einem Thema von Chick Corea kann sich die Sängerin den rhythmisch melodischen Herausforderungen an den Gesang stellen und meistern. Unterstützt vom raumgreifenden Walking Bass von Hendrik Nehls führt der nächste Song noch zu einem kurzen Solo des Drummers. Dieser stellt sein zurückhaltendes Spiel ganz in den Dienst des Gruppen-Sounds, indem er sein Trommeln auf das Wenigste, das Allerwichtigste konzentriert. Hier ist kein einziger Schlag zu viel. Auch jetzt im Solo bleibt er bei seinem sparsamen Spiel mit zufriedener Gestik.
Halt, die 3. Überraschung. Diese versteckt sich in der 2. Zugabe, die sich das Publikum erkämpft und erklatscht. Temptation. Ja, genau die rotzende Versuchung, die Tom Waits in die Welt röhrte und sie allseits bekannt machte. Nun, der Autor verrät kein Geheimnis, wenn er jetzt schreibt, dass diese Versuchung bei dem Quartett von Anna Margolina vollkommen anders klingt. Nicht brachial schreiend und tieflagig kratzend, nähert sich die Versuchung dem Publikum, sondern leise, geschickt getarnt und ganz subtil. Vielleicht ist es auch gar keine Verführung? Es liegt ganz im Ermessen der Hörerinnen und Hörer, wie man/frau sich am besten verführen lassen will – oder eben auch nicht. In diesem Sinn… Temptation!
Anna Margolina - Vocals
Ruben Giannotti - Piano
Hendrik Nehls - Bass
Andrea Marcelli - Drums
Das aktuelle Album: Anna Margolina - No Greater Love
Anna Margolina Internetseite: https://www.margolinamusic.com/
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