Nachbetrachtungen zum XJAZZ-Festival in Berlin-Kreuzberg 08.05. bis 12.05 2019

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Nachbetrachtung

XJAZZ-Festival in Berlin-Kreuzberg
XJAZZ-Festival in Berlin-Kreuzberg, Foto: André Symann

Seit Sonntag ist das Musikfestival XJAZZ offline, will heißen zu Ende. In der Vorankündigung hier auf Jazz-Fun schrieb der Autor:
„Wenn die Besucher das Programm auch nur ein wenig widerspiegeln, so wird mehr als eine bunte Schar von Musikbegeisterten jeglicher musikalischer Couleur zusammenkommen.“

Es ist interessant, ein wenig darüber zu sinnen, ob das, was versprochen war, auch eintrat. Der Autor wird demzufolge seine skizzierten Themen überprüfen. Es gibt am Ende dieser Nachbetrachtung noch den neuen Punkt Sonstiges, der weitere Aspekt wie Organisation, Presse und Tickets behandelt.

Das Angebot von XJAZZ- umfassende Stilistik von Jazz und aktueller Musik Unabhängig davon, wieviel Konzerte ein Besucher schaffen konnte, die stilistische Bandbreite war so gut wie vollständig im Angebot vertreten. Mehr ging wohl nicht. Allein die Konzerte (leider nur 7), die der Autor besuchen konnte, verfügten schon um eine weit gefächerte Stilistik.

Dezentrale Spielstätten - Locations

Interessant ist die Frage nach der Eignung der Spielstätten für die jeweiligen Konzerte. Der Versuch einer Beantwortung kann nur die Locations und Konzerte betreffen, die der Autor besuchte. Eine mögliche Eignung sollte folgende Aspekte berücksichtigen:
Wie groß oder wie klein ist der Ort? Wieviel Personen passen hinein? Gibt es eine Bestuhlung oder müssen so gut wie alle Anwesenden stehen? Was ist mit der Akustik, mit der Verstärkungsanlage? Wie ist das Ambiente mit seiner Atmosphäre? Ganz eng korreliert dies mit der Frage nach dem jeweiligen Publikum. Welche Gruppen, insbesondere welches Alter, sind in welchen Konzerten, in welchen Clubs zu finden?

Hotel Orania

Clara Haberkamp
Clara Haberkamp, Foto: Stefanie Marcus

Konzerte von Drummer Bodek Janke und Clara Haberkamp/Lisa Wulff

Dies ist ein sehr gepflegtes Ambiente. Eher ungewöhnlich für den Jazz, fast schon etwas unheimlich. Für ein kleines, möglichst eingeweihtes Publikum ist dies ein toller Ort. Der Salon fasst so 40 Sitzplätze und vielleicht 10 bis 15 Stehplätze. Bei mehr Personen verliert der Raum wohl seinen Charme. Aber für ausgefallene Konzerte – aufgrund des Stils oder der fehlenden Bekanntheit – ist dies ein vorzügliches Ambiente. Und das „Brlo“ vom Fass schmeckt an der schnuckeligen Theke auch ganz lecker, (alt-slawischer Name für Sumpf, aus dem Berlin wurde, heute ein lokales Bier).

Dieses Kriterium – ausgefallenes Konzert – trifft auch für den Auftritt der Pianisten Clara Haberkamp mit der Bassistin Lisa Wulff zu. Auch hier hat sich ein eingeweihtes Publikum eingefundenen. Der uneingeweihte oder neugierige Rest der Anwesenden hat sich positiv überraschen lassen.
Fazit: Ambiente und das überwiegend mittelalte Publikum passen gut zusammen.

Lesen Sie über:
Songs oder die Lieder des Bodek Janke – 09.05.2019 im Orania
Piano trifft Kontrabass oder die Kunst des Duos (Clara Haberkamp bittet Lisa Wulff zum Duo)

SO36

Meute
Meute, Foto: André Symann

Brass Band Meute

Nach dem ersten Konzert im Orania konnte es wohl keinen größeren Kontrast geben, als das Konzert im räumlich nahen, architektonisch und atmosphärisch fernen SO36, in dem Meute auftrat.

Zum Publikum. Dies setzt sich nicht - nein, denn fast alle müssen stehen – aus einem bunten Mix von verschieden Altersgruppen zusammen, sondern hier dominieren unübersehbar die Youngsters. Na gut, es gibt auch ein paar Gesichter, die zu den „Alt-Jugendlichen“ gezählt werden müssten, aber Outfit und Gestus entsprechen denen von Jugendlichen, zumindest von jungen Leuten. Der Autor will nicht so pingelig sein und zählt sie einfach zum Jungvolk.
Was hörte denn das Publikum für eine Musik und wie kam sie an?
Akustischer Techno-Jazz ! Dies würde auch den Erfolg des Konzertes erklären. Das SO36 ist rappelvoll, es ist verdammt eng. Die Leute sind echt angetan, wenn nicht begeistert von der Band und ihrer Musik…Die Location trägt sicherlich eine große Rolle bei der Akzeptanz der Musik. Was hier im Saal gespielt wird, das muss einfach klasse sein, auch wenn es was, mit Jazz zu tun hat.
Fazit: Die Location mit ihrem Ambiente, die Musik von Meute und das tobende Publikum waren nicht zu schlagen. Besser konnten diese technischen Komponenten eines Konzertes nicht zusammengebracht werden.

Second Short Story: „Meute“ – oben spielt und unten tobt die Meute

Lido

Rolf Kühn
Rolf Kühn, Foto: André Symann

Klarinetten-Legende Rolf Kühn und sein Quartett im Lido, dem ehemaligen Kino.
Rolf Kühns Loblied auf das Lido klingt so: „Von außen sei das Lido scheußlich, aber von innen sei es ein toller Ort mit guter Atmosphäre... Dann dankt er den zahlreichen Besuchern für ihr Kommen.“ Rolf Kühn ist zu zustimmen, durchaus. Das Äußere ist vielleicht nicht ganz so scheußlich, wie dies der Klarinettist empfindet. Es ist eher Kreuzberger Standard und bezüglich des Charmes von Örtlichkeit und Ambiente liegt das Lido so zwischen SO36 und dem Kreuzberger Festsaal, näher am letzteren, räumlich wie atmosphärisch.

Innen ist der Saal in dunklen Farben gehalten. Ein Mix aus roten und violetten Tönungen durchbricht an einzelnen Stellen die dunkle Schwärze. Entsprechend ist die Atmosphäre. Gegen die coole Lässigkeit braucht es schon viel Stimmung und einen gewaltigen Sound, um das Publikum in Rage oder Ähnliches zu bringen. Auch das Alter spielt sicherlich eine Rolle. Es gibt relativ viel junges Publikum, aber die Mehrzahl der Besuche sind eher dem mittleren Alter zuzurechnen, Senioren sind nur vereinzelt auszumachen und Besucher, die das Alter von Rolf Kühn (89!) haben, sind gar nicht zu entdecken. Die Begeisterung eines mittelalten Publikums fällt möglichweise weniger empathisch aus, als bei ganz jungen Leuten. Rolf Kühn erhält viel Zuspruch für sein Konzert.
Und das Publikum? Dem gefällt es gut. Gar keine Frage. Aber eine richtig tiefe Begeisterung voller Emotionalität kann der Autor nicht erkennen.

Möglicherweise ist eine hohe emotionale Begeisterung auch zu viel verlangt. Dies kann nicht immer gelingen und hängt von vielen Faktoren ab. Die Musik des Künstlers ist nur eine davon. Vielleicht lag es auch am frühen Konzertbeginn. Ein späterer Beginn hätte mehr (junge) Leute und noch mehr Begeisterung gebracht? Reine Spekulation.

Fazit: Das Ambiente im Lido ist für solche anspruchsvollen Konzerte wie das von Rolf Kühn ganz gut geeignet, wenn auch nicht optimal. Das überwiegend mittelalte sachkundige Publikum passte jedenfalls gut zum Ambiente.

Kurzgeschichte Nr. 3 - Die Lebendigkeit der Klarinette – die Legende Rolf Kühn im Lido

Bi NUU

The Bad Plus
The Bad Plus - Foto: Joanna Wizmur

The Bad Plus – Piano-Trio

Ein für den Autor ganz neuer Club. Alles ist recht eng, sehr voll und schwer vorzustellen, dass die Anwesenden wegen des Piano-Trios gekommen sind.
Es ist rammelvoll im BI NUU. Dicht gedrängt stehen die Besucher im Halbdunkel Schulter an Schulter. Wer dies mag, für den ist es schön kuschelig. Da ein großer Teil des Publikums aus jüngeren Leuten besteht, ist es die Enge aus anderen Konzerten wohl gewohnt, und dieser unvermeidliche Körperkontakt scheint den meisten nichts auszumachen.

Ja, dieser direkte Körperkontakt hat den meistens wohl nichts ausgemacht. Es hat sie nicht davon abgehalten, das Konzert zu genießen und den Musikern kräftig Beifall zu spenden. Das Publikum setzte sich vorwiegend aus jungen Leuten zusammen. So viele junge Menschen hat der Autor schon lange nicht mehr bei einem Jazzkonzert gesehen. Dies muss mit der Lage des Clubs (Schlesisches Tor in Kreuzberg) und/oder mit dem Club selbst zu tun haben. Frei interpretiert könnte dies so gewesen sein: Wenn eine Gruppe in unserem Kiez-Club spielt, dann muss die Musik einfach gut sein, denn sonst wären sie ja nicht eingeladen worden, egal was sie spielen. Es könnte aber auch so sein, dass The Bad Plus so bekannt sind, dass ihr guter Ruf (fast) jeden Club vollmachen würde, gleich wo sie aufträten. Aber der Autor ist der Auffassung, dass der Club in dem ein Konzert stattfindet, eine besondere Rolle für das Publikum innehat, insbesondere für das junge.

Alle drei (Musiker sind) absolut gleichberechtigte Mitgestalter ihrer Musik: souverän und virtuos. All dies spürt das Publikum und bekundet - wenn nicht emphatische - so doch freundliche Begeisterung nach jedem Titel.

Das mit der nicht so großen Begeisterung möchte der Autor hier korrigieren. Dem Publikum hat es sehr gut gefallen, und es war vermutlich auch begeistert. Der Autor hat den Schluss-Applaus leider nicht mehr mitbekommen – er war auf dem Weg zum Konzert von Yaron Herman.
Fazit: Ein perfekt ausgewähltes Ambiente, in dem Musik und Publikum hervorragend zusammen passten.

Die 4. Kurzgeschichte - The Bad Plus Encounters Yaron Herman - ein Vergleich

Emmauskirche

Yaron Herman Trio
Yaron Herman, Foto: Norbert Krampf

Yaron Herman – Piano-Trio

Die Kirche ist gut bis sehr gut besucht. Der erste optische Eindruck ist folgender: Ein mittelhohes Gewölbe empfängt den Besucher, die Kirche ist spärlich eingerichtet, sie hat wenig Atmosphäre. Auch die zahlreichen Besucher können die sterile Atmosphäre nur etwas mildern. Die Akustik fällt sofort auf.
Die Emmauskirche hat für Kirchräume zwar nicht besonders viel Hall, aber er ist vorhanden. Das Stück, was gerade gespielt wird, ist ein schnelles treibendes Thema mit viel Bewegung…der Hall ist zu deutlich zu spüren….Das Schlagzeug von Ziv Ravitz und besonders die Becken scheppern und schallen verstörend….Die Klangfarben des Pianos zwar kommen besser mit der Akustik zurecht, aber bei schnellen Akkorden und solistischen Läufen haben auch diese Sequenzen gewisse Schwierigkeiten, die Ästhetik des Pianoklangs angemessenen zur Geltung zu bringen.

Leider, so war es. Dem ist wenig hinzu zufügen, außer Verständnis für die Veranstalter aufzubringen, die – wenn es irgendwie gegangen wäre – keine zwei Piano-Trios dieser Qualität zum gleichen Zeitpunkt hätten spielen lassen, wenn es möglich gewesen wäre.

Die 5. Kurzgeschichte - Yaron Herman Encounters The Bad Plus – ein Vergleich

Fazit Location:

Alles im allem ist dies kein idealer Ort für ein Konzert eines Piano-Trios, aber die gute Locations sind in Kreuzberg begrenzt. Und irgendwo müssen die vielen Gruppen ja spielen. Und das Publikum?
Freundlicher Beifall, auch etwas mehr, aber aus dem Häuschen sind die Leute nicht. Dazu trägt auch das Ambiente der Emmauskirche bei, das eher den stillen Zuspruch erwartet und weniger den stürmischen Applaus.

Fazit Publikum:

In der Emmauskirche ist das Publikum auch gemischter als im BI NUU. Das mittlere Alter ist gut vertreten, aber auch zahlreiche junge Leute sind zugegen. Jedes Alter war zu finden. Ebenfalls könnte die Spielstätte für den guten Besuch ausschlaggebend gewesen sein. Oder es war einfach die musikalische Klasse von Yaron Herman, der alle Altersgruppen in die nicht optimale Emmauskirche lockte.

Modulares Konzept oder die Qual der Wahl

XJAZZ-Festival in Berlin-Kreuzberg
XJAZZ-Festival in Berlin-Kreuzberg, Foto: André Symann

Hier reinhören, dorthin swingen, da Funk und Hip-Hop sich um die Ohren schlagen lassen oder Electronic Sounds sich (tanzend?) zu eigen machen... Dadurch kann sich jeder sein eignes Festival zusammenstellen…Es bleibt bei der (Jazz)Musik - wie auch im sonstigen Leben - ein Restrisiko von Überraschungen, wie sie auch ausfallen mögen.

Ja, so war es für den Autor. Seine „Überraschungen“ waren überwiegend positiv. Dieses Sich-Überraschen-Lassen mag ebenfalls zum Erfolg des XJAZZ-Festivals beigetragen haben. Was noch?

Sonstiges

Die harten Faktoren, die den Erfolg eines Festivals wesentlich bestimmen, werden kurz skizziert. Dazu zählen:

Organisation

Die klappte bei den - vom Autor besuchten Konzerten - wie am Schnürchen. Zu der Organisation zählt auch die Ticketvergabe. Die klappte hervorragend noch bis zum Konzertbeginn (es gab auch Abendkasse). Die Tickets kamen in Sekundenschnelle nach der Order als PDF. Mails erinnerten an den Konzertbesuch. Der gewaltige Rest an Arbeit hat auch gut funktioniert. Dies ist stets daran zu erkennen, wenn alles geräuschlos über die Bühne geht, was der Fall war.

Presse und Ankündigungen der Konzerte

Die spielenden Gruppen und Individuen wurden gut vorgestellt. Deren Musik wurde kurz, aber zutreffend beschrieben. Sinnvoll waren auch die Videos von YouTube sowie Links zu den Websites der Musiker. Solche Infos sind unter einem PR-Aspekt zu lesen, aber dies ist legitim. Auf gute(Jazz) Musik muss informativ hingewiesen werden. Es ist dann Sache der journalistischen Berichterstattung oder der Jazzkritik dies zu überprüfen, zu relativieren und in den Kontext zu stellen. Oder ganz einfach zu sagen: Ja, tolle Konzert wurden angekündigt und es gab sie auch. Oder aber: Nein, das war nichts! Zwischen diesen Spannungspolen bemüht sich der Autor um eine sehr differenzierte Würdigung der Konzerte und der einzelnen Titel.

Eine Anmerkung. Die Beschreibung der Musik auf Englisch ist gut und erforderlich, aber es wäre für ein Festival in Berlin sinnvoll, wenn es die Texte auch auf Deutsch gäbe. Dies würde dem internationalen Anspruch des Festivals sicher nicht schaden.

Preise der Tickets

Mit Preisen so um die 20 € waren dies attraktive Angebote. Im Preis-Leistungsvergleich waren sie sogar sehr attraktiv. Und wer sich mit den Rabatten bei Tickets für das ganze Festival eindeckte, der befand sich im Reich der „Schnäppchen“.

Ach so, fast vergessen: natürlich spielte auch das breite Angebot an guter bis exzellenter Musik eine herausragende Rolle. Ohne dies würden die anderen Faktoren nicht viel ausrichten können.

Was bleibt noch zu sagen? Wenig, nur dies: Der Autor freut sich schon auf das nächste XJAZZ-Festival im Jahr 2020. Dann will er es noch besser machen, d.h. noch mehr und stilistisch noch breiter gestreute (sofern objektiv möglich) Konzerte besuchen und darüber berichten. Bis dann...

Text: Cosmo Scharmer
Fotos: Stefanie Marcus, Joanna Wizmur, André Symann, Norbert Krampf

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