XJAZZ-Festival in Berlin-Kreuzberg - Kurzgeschichte Nr. 3 - Die Lebendigkeit der Klarinette – die Legende Rolf Kühn im Lido
von Cosmo Scharmer

Kurzgeschichten vom XJAZZ-Festival in Berlin-Kreuzberg 08.05. bis 12.05.2019
Kurzgeschichte Nr. 3 – 10.05.2019
Die Lebendigkeit der Klarinette – die Legende Rolf Kühn im Lido
Veranstaltungsort/Ambiente
Wir – das heißt der Autor und vielleicht 250 Besucher oder ein paar mehr – befinden uns im Lido, einem ehemaligen Kino, das den Ruf hat, zeitgenössische wie kreative Musik in vielen, oft schrägen Varianten anzubieten. Das Lido ist gut besucht, aber es sind noch Plätze frei. Es gibt einige Reihen mit Stühlen, aber die meisten müssen sich stehend einen Platz sichern. Für den Autor heißt dies ein Platz an der Theke, der ja bekanntlich der Beste sei. Hier kann er sich nicht nur anlehnen und sein Bier trinken, sondern auch seine Notizen hin kritzeln. Dies ist eindeutig besser als sich auf das eigene mitunter unzuverlässige Memory zu verlassen. Für diese wirklich „frühe“ Jazzstunde (18:00 Uhr) ist es also geradezu proppenvoll. Dies sieht Rolf Kühn genauso, der dies später erfreut bekundet.
Die Musiker
Freundlicher, warmer Applaus brandet auf. Der Klarinetten-Virtuose Rolf Kühn ist „On Stage“ und sofort geht es zur Sache, ohne Ansage oder so. Wenn der Autor den später benannten Titel richtig verstanden hat, ist dieses Stück Lions Speach. Die Klarinette leitet mit einer melodischen Figur den Auftakt ein. Dann fallen die anderen ein. Dies sind der Pianist Frank Chastenier, die Bassistin Lisa Wulff und der Drummer Tupac Mantilla. Bald übernimmt das Piano die Themen- und Stimmführung, wobei das Thema bald anfängt, in eine freie Spielweise abzugleiten und auszufransen. Es wird stärker mit Stimmungen und Klangfeldern gearbeitet als mit thematischen Figuren, kollektiv wird zur Einstimmung improvisiert. Nach dem Ende des 1. Titels stellt Rolf Kühn sein Quartett vor. Sein Loblied auf das Lido klingt so: Von außen sei das Lido scheußlich, aber von innen sei es ein toller Ort mit guter Atmosphäre. Der 2. Teils seiner Aussage ist nicht wortwörtlich, aber sinngemäß zitiert. Dann dankt er den zahlreichen Besuchern für ihr Kommen.
Die Musik

Weiter geht das Konzert mit Titeln aus seiner CD Yellow + Blue. Rhythmisch wird das Thema durch die Drums strukturiert, Rolf Kühn trägt melodische Schnipsel bei, die sich zusehends improvisatorisch auflösen. Es ist ein Spielen mit freien Harmonien, wobei die Klarinette die Stimmführung behält. Die Themen poppen meist nur kurz auf und verschwinden schnell bei den gemeinsamen Improvisationen aller Musiker. So genau ist es nicht auszumachen, wo der einzelne Titel aufhört und ein neuer anfängt. Sei´s drum. Jetzt ist ein flippiges Piano-Solo auf Basis eines Walking Bass zu hören.
Das folgende Muster zeigt sich auch in den weiteren Titeln: es gibt einen ständigen Wechsel zwischen den skizzierten Themen und den solistischen oder gemeinsamen Improvisationen. So klingt es zumindest. Es ist gut möglich, dass einige nach Improvisation klingende Sequenzen komponiert sind. Egal. Das folgende Klarinetten-Solo wird nur von Tupac Mantilla unterstützt. Zuerst tut er dies mit kantigen Schlägen, dann ohne Stöcke mit den bloßen Händen. Danach kommen wieder alle im Spiel zusammen: die Melodiefetzen verfallen, es gibt zahlreiche Wechsel und steile Brüche, ständige Überraschungen. Auch gute Musiker brauchen eine gewisse Zeit, um sich auf ständige thematische, harmonische und rhythmische Wechsel einzustellen. Auch das versierte (Jazz)Publikum benötigt Zeit, um die musikalischen Themen aufzunehmen und zu verstehen. Die zahlreichen und kurzfristigen Variationen machen es etwas schwierig zu folgen. Der Autor hat das Gefühl, dass das Quartett noch nicht optimal zusammengefunden hat. Bildlich gesprochen stehen die Musiker und die Musikerin eher nebeneinander. Aber vielleicht ist dies die musikalische Konzeption von Rolf Kühn und es soll genauso klingen wie es tönt. Möglicherweise ist die unruhige, etwas hektische Einfärbung dem Tribut an den vermeintlichen oder realen Metropolen-Sound dieser Stadt geschuldet?
Diese Art den Jazz zu spielen mag mehr oder weniger gefallen. Was allen gefällt ist die Klangfärbung der Klarinette. Die sonore Stimme des Holzinstrumentes betört und verzaubert. Jetzt ergänzt der stolze Holzbass von Lisa Wulff diese klingenden Landschaften. Rolf Kühns Klarinette besticht durch ihren emotionalen Ton voller Eleganz, Reife und erdiger Wärme. Lebendiger kann die Klarinette kaum klingen. So entpuppt sich dieser Titel zu einer wunderschönen Ballade.
Abgelöst wird diese Musik durch ein ziemlich freies Solo von Frank Chastenier. Unterstützt durch die Drums, die wiederum mit nackten Händen geschlagen werden, zeigt sich hier, dass das Spielen im Duo zu einem weiteren Strukturelement dieser Musik wird. Tupac Mantilla hat die Stöcke in die Hand genommen und schlägt mit denen auch kräftig zu. Weniger ein feinsinniger, differenziert agierender Trommler, scheint er eher dem Typ des schweren Drummers, des „Dreschers“, zu entsprechen.
Ganz schnell verlassen Lisa Wulff und Frank Chastenier die Bühne. Dies sei so nicht abgesprochen gewesen, bemerkt Rolf Kühn. Tja… oder Hm…
Dafür gibt es jetzt eine artistische Einlage. Conversation III nennt sich das Stück. Tupac Mantilla schlägt mit den Händen auf Beine und weitere Körperteile und stampft dazu mit den Füßen rhythmisch auf. Dieser Step Dance hat einen Schlag von bajuwarischen Schuhplattlern. Optisch zumindest sieht es danach aus, rhythmisch aber ist es von völlig anderer Couleur. Hier brennt jetzt das knatternde und knisternde Feuer des andalusischen Flamencos. Klarinette und Step Dance finden sich, ergänzen sich trefflich. Das Publikum ist von dieser folkloristischen wie artistischen Einlage sehr angetan.
Gegen Ende des Konzertes kommt die Musik wieder ruhiger rüber. Eine bewegte Ballade ertönt, die Klarinette bläst harmonische Sequenzen. Das Ganze basiert auf den gezupften Figuren eines lässigen Walking Bass von Lisa Wulff. Nur der Mann am Piano kann es nicht lassen, diesen Sound mit kleinen Verstörungen anzurempeln. Zu schön soll es auch nicht klingen… Dann aber doch. Ein Thema aus Yellow + Blue zwingt dem Pianisten ein sanftes Solo auf. Die Harmonien erinnern an den fantastischen Song Both Sides Now von Joni Mitchell, der wohl auch gemeint ist. Swingend geht es nach einem Tempowechsel weiter. Jetzt ertönt ein markantes Solo der Bassistin, dann ist Rolf Kühn wieder dabei. Die tiefe Intonation seines Instrumentes, das wie eine Bassklarinette klingt, harmoniert wunderschön mit den tiefen Lagen der singenden Bassfiguren.
Und das Publikum? Dem gefällt es gut. Gar keine Frage. Aber eine richtig tiefe Begeisterung voller Emotionalität kann der Autor nicht erkennen. Was ist mit der Beantwortung der Eingangsfrage? Ja, die Legende Rolf Kühn lebt, und wie! Wer den Sound der Klarinette liebt, der kann nur versuchen, diesen Jazzmusiker so oft wie möglich zu hören, ihn live zu erleben.
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