Berlin Special Edition - Art Ensemble of Chicago - Jazzfest Berlin - Fr 02.11.2018

Roscoe Mitchell - saxophones, flute
Hugh Ragin - trumpets
Famoudou Don Moye - drums, congas, percussion
Dudù Kouate - african percussion
Jean Cook - violin
Tomeka Reid - cello
Silvia Bolognesi - bass
Jaribu Shahid - double bass
Christina Wheeler - voice, array mbira, auto harp, q-chord, theremin, sampler, electronic
Die Legende
Zur Einführung gibt es viele Informationen, darunter die, dass das AEC das letzte Mal vor 27 Jahren in Berlin gastierte. Meine Begegnung mit dem AEC reicht bis ins Jahr 1973 zurück. Damals noch unter dem Namen Berliner Jazztage spielte das Ensemble in der „heiligen“ Halle der Philharmonie. Stets war (ist) die Jazzwelt ein wenig verkehrt oder ver-rückt in diesem, der Klassik geweihten, Musiktempel mit der phantastischen Akustik. Umso größer war der Kontrast zwischen dem Ambiente des großen Saals und dem Erscheinungsbild des ACE.
Erschlagend bunt in frohen Farben, mit angemalten Gesichter und vielen Accessoires wie Kopfbedeckungen und Kleidungstücken aus Afrika gab es keinen Zweifel, welcher kulturellen und musikalischen Tradition sie sich verpflichtet fühlten. Auch die Musik tat dies kund. Die starke Betonung von perkussiven Instrumenten aller Art, die vielen kleinen Instrument wie Rasseln, Glöckchen und Klappern aus dem schwarzen Kontinent machten deutlich, dass hier ein besonderer Jazz gespielt wurde, der sich auf stark auf afrikanische Elemente bezog. Auf der anderen Seite war die (Afro)amerikanische Tradition des Jazz ebenfalls unüberhörbar präsent. Aus all dem wurde ein ganz eigener, sofort erkennbarer Sound. Was ist heute von der Legende übrig? Wer von den Musikern ist noch dabei?
Zuerst wird an den verstorben Trompeter Lester Bowie erinnert, der durch die klagenden Growl-Töne seiner Trompete sowie durch seinen stets getragenen weißen Arztkittel (der Jazzmusiker als klassischer Psychiater) ebenfalls zum Markenzeichen der Formation avancierte.
Von den „alten Medizinmännern“ sind noch dabei: der Saxofonist und Leader Roscoe Mitchell (im klassischen europäischen Anzug), der Drummer Don Moye und der Perkussionist Dudù Kouate, wobei zu sagen ist, dass alle Musiker des AEC perkussiv zu hören waren. Ein überkommener musikalischer Kern ist also noch vorhanden. Was die Perkussion und die kleinen Instrumente betrifft, so ist sich das Ensemble treu geblieben. Was die Intonation der Soli – besonders des Saxofons - betrifft, so können ebenfalls viele vertraute Klangfärbungen wiedererkannt werden. Der Rest der Musiker und Musikerinnen – dies ist neu im AEC - kommt im neuen Gewand daher. Was dies optisch immer sein mag, afrikanisch sind nur noch die Musiker an den Schlaginstrumenten verkleidet. Alle andern sind mehr oder weniger jazzmäßig unverkleidet, wobei dies auch dem Fakt geschuldet sein kann, dass sich die aktuelle Band – neben ihrer Jugend und Weiblichkeit – nicht nur afroamerikanisch, sondern multiethnisch präsentiert.

Die aktuelle Musik
Sofort fließen für das AEC neuartige Töne ins Ohr. Die neu hinzugekommen Streicher machen das Auftakt-Stück zu einem kammermusikalischen Konzert. Zusammen mit der melancholischen Färbung der solistischen Trompete hat das Thema viel von einem Requiem – für Lester Bowie?! Der Bass bringt rhythmisch treibende Komponenten ins Requiem, welches durch die hinzukommende Moor Mother mit ihren beschwörenden und raunenden Worten erneut zu einem Poem mutiert: „We are on the edge of victory“. Über die Verständlichkeit bzw. Unverständlichkeit von derart vorgetragener Lyrik wurde in diesem Artikel einiges gesagt. Weiteres kann unterbleiben.
Das nächste Thema wirbt mit den Verlockungen eines sphärenhaften kosmischen Sounds voller einschmeichelnder Klänge. Der Charakter dieser Musik streift die Klangwelten von Filmmusik, wenn es nicht gar wie ein Werbefilm für eine Wohlfühl-Oase anmutet. In der Tat, dies alles sind neue Klangwelten, die das AEC hier bemüht. Die Trompete verleiht in ihrem solistischen Ausflug dem Stück wieder etwas von der Traurigkeit eines Requiems.
Bis jetzt ist fast nichts vom tradierten Ensemble-Sound auszumachen. Das nächste Thema streift kammermusikalische Klangwelten. Gestrichenes Cello, beide Bassisten verstärken das Thema durch ihre Soli, diskret von den Drums unterstützt. Jetzt probt ein wildgewordenes Kammerensemble den freijazzigen Aufstand, der jedoch schnell zusammenbricht, um wieder in diese novembertraurige Kammermusik zu fallen. Nur Roscoe Mitchell, der Mann am Saxofon, verbleibt im freien Metier: schrill, grell zelebriert sein Sopran einen stark energiegeladen Sound, der sich wenig um thematische, harmonische oder rhythmische Auflösung bemüht. Dieser Parts seiner Soli erinnern schon eher an den überkommenen AEC-Sound. Die Vokalistin mit opernhaften Klangübungen – an der Grenze zur Koloratur – steigert noch den melodramatischen Kammer-Sound des Ensembles. Dieser löst sich nach und nach auf, um in schönster Noise-Musik zu versinken – wer es mag.
Nun ist die kleine Combo dran. Etwas Perkussion, eine akustische Bassgitarre (sehr selten) und ein Trompetensolo zeigen, dass die Musiker auch das Genre der Ballade bedienen können. Der Rausschmeißer kommt sogar als Swing daher und selbst Roscoe Mitchell zeigt, dass auch er diese Spielweise solistisch beherrscht, wenn er denn will. Dann ist auch schon Schluss.
Positiv: das neue AEC verliert sich nicht im bekannten überkommen AEC-Sound, spielt nicht das langweilige Stück „Die Legende lebt“, sondern bemüht sich um neue Sounds, um neue Musik in den verschiedensten stilistischen Ausprägungen. Gut so!
Negativ: diese vielen Stilistiken werden nicht vollständig umgesetzt, werden nur angerissen und wirken in der Abfolge zu beliebig. Eine – auch bei aller Gegensätzlich der Elemente – überzeugende Integration der Stile zu einem kompakten Ensemble-Sound ist noch nicht gelungen. Leider!
Kurzgeschichten über neun Konzerte des Jazzfestes Berlin 2018.
Die einzelnen Konzerte des Festivals in der Übersicht:
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