Hattler - Velocity

Hattler - Velocity

HATTLER
Velocity

Erscheinungstermin: 12.10.2018
Label: 36music, 2018

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Reißt die Fenster auf, Leute, und spielt das neue HATTLER-Album VELOCITY so laut und so oft wie möglich! Extrem enggefasste Zustände dulden schließlich weder geflüsterten noch langweiligen, geschweige denn gradlinigen Widerspruch. Das inzwischen siebte Studioalbum des stetig im personellen Wandel begriffenen Projekts HATTLER ist der allgegenwärtigen Lethargie und der unaufhaltsam scheinenden Polarisierung ein leidenschaftlicher Arschtritt. Vollkommen unbeabsichtigt natürlich, was diese Randnotiz umso relevanter erscheinen lässt. VELOCITY ist kein politisches Album. Aber die Lust und der Sex, die aus jedem Ton dieser Platte wie ein verführerisches Aroma strömen, täuschen andererseits auch nicht darüber hinweg, die Empathie-Dürre des Jahres 2018 mühelos tänzelnd in Liebe verwandeln zu können. Liebe zur Vielfalt, zur Freiheit, zum Genuss des irdischen Gewusels und zum Leben.

Das stand auf der Kippe, auf Messers Schneide. Hellmut (ja, mit zwei L!) Hattler, der lange Blonde von Kraan, Tab Two und der Namens- und Impulsgeber von HATTLER, hätte eine schwere Blutkrebserkrankung beinahe nicht überlebt. An Musik war zunächst nicht zu denken. Die Chemie lähmte sogar zeitweise die Motorik seiner Finger und drückte sein Lebenselixier Richtung Vergangenheit. Mehrere Wochen Isolation auf einer Intensivstation brachten das neue Album schließlich ins Rollen. Musik musste sein. Sterben oder sich deren heilender Kraft bedienen, waren die Alternativen, zwischen denen Hellmut Hattler wählen konnte. Sein Körper war buchstäblich am Ende, aber sein Spirit verlangte danach, musikalische Grußbotschaften nach draußen zu schicken. Aber wie? Alles, sogar sein Bass war wegen drohender Keime verboten. Nach langem Tauziehen mit der Ärzteschaft, durfte das besaitete Holz schließlich unter strengen Auflagen aufs Zimmer getragen werden.

„Da lag ich dann damit im Bett, musste ihn alle zwei Tage desinfizieren, konnte aber testen, ob ich motorisch überhaupt noch in der Lage war, spielen zu können“, erinnert sich Hellmut Hattler. „Die vier Wochen vorher war ich zum allerersten Mal seit meiner Jugend vom Bass getrennt gewesen. Wenn meine Hände lahm geblieben wären, hätte ich vermutlich alles aufgegeben. Mir wurde während dieser Zeit noch mal ganz deutlich klar, wie sehr die Musik Teil meiner Lebenskraft war. Zum Glück ertappte ich mich ganz langsam wieder beim Finden von Themen, aber nicht beim Gedanken an deren Verwertung, denn ich war ja mit Überleben beschäftigt.“ Stück für Stück gab die Musik schließlich mehr Kraft als sie raubte. Und sie führte raus aus der Isolation, aus der permanenten Beschäftigung mit der Krankheit. Plötzlich sah Hellmut Hattler wieder Licht, Helligkeit und empfand Wohlbefinden.

Die ersten Skizzen, die im Krankenhaus entstanden waren, hießen sinnigerweise „Aplasie I“ und „Aplasie II“, was davon zeugte, dass Hattlers Humor den Schläuchen, die aus seinem Hals ragten, nicht zum Opfer gefallen war. Das erste komplett im Hospital ausgeheckte Stück war die popsarkastische Soulbotschaft „Teaser“. Von Fola Dada warm gesungen, von Moritz Müllers knackiger Schlagzeug-Liebe funky getaktet und von Hellmut Hattlers charakteristischer Orchestrierung veredelt, hat die Song-Fraktion der Platte mit dieser Nummer eine extrem frisch klingende Calling Card. Der zweiten Geburt im Krankenbett durfte sich ein eindeutiger Monolith im gesamten Schaffen Hellmut Hattlers erfreuen: „Anthem For Approaching Starships“. Man möchte vor Ehrfurcht auf die Knie gehen beim Hören des freundlich-versöhnlichen Grundthemas der Instrumental-Nummer, das sich auch gut auf den Kraan-Klassiker-Alben „Flyday“ oder „Let It Out“ gemacht hätte. Aber es kommt noch besser, wenn Jürgen Schlachter gemeinsam mit Joo Kraus zur herrlichen Xylophon- und Bläser-Geschwätzigkeit im Geiste Frank Zappas ansetzen. Die wird von Hattlers jazzrockigem Fretless-Verständnis und Moritz Müllers grandiosem Sinn für Fills und gegenläufige Metren flankiert.

Was nach dieser Großtat eigentlich noch kommen soll, fragt man sich unweigerlich-skeptisch und wird umgehend eines Besseren belehrt. Das Titelstück „Velocity“ beschreibt als Metapher die Unstimmigkeit des Lebenstempos, den Wechsel zwischen Zeitraffer-Empfinden und Slow Mo im lebensbedrohlichen Zustand. Das wenig Konkrete, das Kryptische, mit dem das Stück aufwartet, die Abstraktion im Wechselspiel zwischen Handgemachtem und lupenreiner Elektronik, ziehen wie ein Sog in eine Traumsequenz. Die klingt nicht nach Schmerz oder Endzeitstimmung, sondern bemerkenswerterweise wie der Geruch von Frische nach einem Regenschauer im Frühling. Der Umkehrwille, der Drang zurück ins Leben wird in VELOCITY zur begeisternden Nabelschau. Die bietet gleichzeitig so viele Anknüpfungspunkte, dass jedes individuelle Schicksal einen revitalisierenden Perspektivwechsel erfahren kann. Sofern man sich auf die Platte einlässt.

Schwer fällt das nicht ein Stück weit. „Mayday In Paradise“, „Care“, „Home Bass“ und „Delhi Mail“, der verschollen geglaubte Bruder von „Delhi News“, nehmen freundlich an die Hand, heißen willkommen. Mehr noch, man betrachtet sie umgehend als Freunde und spürt den Wunsch, sie als stetige Lebensbegleiter nicht mehr missen zu wollen. Zum ersten Mal gelingt Hellmut Hattler auf VELOCITY auch das Kunststück, sämtliche seiner kompositorischen und stilistischen Charakteristiken wirklich dergestalt zusammen zu bringen, dass sie vollkommen mühelos Kohärenz aufzeigen. War „Bassball II“ ganz bewusst von Kategorien gekennzeichnet, Club-Sounds einerseits, free-form-Songs andererseits, darüber noch rockiger Jazz und darunter Hip Jazz, markiert VELOCITY Hellmut Hattler in seiner Essenz. Sämtlichen gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Stopp-Schildern zum Trotz.

Deutschland, 2018. Vor diesem Land könnte auch ein Schild hängen, auf dem „Wir haben fertig!“ geschrieben steht. Und da kommt plötzlich so ein Ding wie VELOCITY angeflogen, das hipste und coolste musikalische Juwel, mit dem sich die Berliner Republik in diesem Jahr schmücken darf. Weil es den bräsigen Zeitgenossen trotzend mit Nonchalance in den Zwischentönen einen Weg Richtung kultureller und emotionaler Vision weist. Todesangst bedingt die Lebensfreude, Dunkelheit das Licht, Depression den Tanz der Hormone. All das steckt in VELOCITY, dessen Metabotschaft laut ruft: Macht Liebe, lasst euch nicht alles von den allgegenwärtigen Spielverderbern kleinreden, sondern lebt, verdammt noch mal!

Text: Michael Loesl

  1. Anthem For Approaching Starships
  2. Teaser
  3. Trident
  4. Threshold
  5. Home Bass
  6. Care
  7. Velocity
  8. Lieblingslied
  9. Mayday In Paradise
  10. Delhi Mail
  11. Anthem For Approaching Starships (Reprise)

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